Oberhausen. Oberhausen, wie geht es dir in diesen Zeiten? Das kann am besten die Mülheimer Straße beantworten. Was Anwohner und Geschäftsleute beschäftigt.
Die Maske hängt nur noch an Sabine Turows Handtasche, als die 61-Jährige die Einkäufe in ihre „ungewöhnliche Ü60-Wohngemeinschaft“ schleppt. Dankenswerterweise. Denn mit bedecktem Mund wäre sie kaum zu verstehen, bei dem minütigen Sirenengeheule, dem sekündlichen Motorenbrummen hier. Die Mülheimer Straße eben – dreckig und laut, lebendig und kunterbunt. Wobei: „Es ist hier durch Corona schon ruhiger geworden“, sagt Sabine Turow, die hier fast ihr ganzes Leben verbracht hat – aber im anstehenden Sommer gerne mal wieder etwas anderes gesehen hätte. „Der Jahresurlaub fällt für uns aus.“
Lieber italienische Lampe als Italien-Urlaub
Ein Ärgernis für Sabine Turow, Existenzbedrohung für Andreas Alberti. Die Türen seines Reisebüros „Asia Live Fernreisen“ schließt er derzeit nur auf, um Umbuchungen und Stornierungen zu bearbeiten. „Ich arbeite kostenlos und muss 25.000 Euro Provision zurückzahlen, teilweise für Reisen, die ich vor zehn Monaten verkauft habe“, erzählt der 53-Jährige. Laufkundschaft brauche er eigentlich nicht, ein florierendes Online-Geschäft habe er sich aufgebaut. „Aber jetzt gibt es eben gar nichts mehr zu verkaufen.“ Hier, an der Mülheimer 96, schlägt Corona besonders hart zu.
Einige Hausnummern weiter trifft der Hieb weicher. Für das Lampengeschäft Wölfer sind die Reisebeschränkungen gar ein Vorteil. „Die italienische Lampe wird derzeit mehr nachgefragt als der Urlaub in Italien“, sagt Verkäuferin Edith Schulz. Man könne deshalb aktuell mit dem Geschäft zufrieden sein, sagt die 60-Jährige. Die Menschenleere, die am Freitagmorgen im Laden herrscht, sei da kein Gradmesser. „Wir fahren auch zu den Kunden und machen die Beratung zu Hause.“
In der Corona-Zeit viel Deutsch gelernt
Klage in den Reisebüros, Optimismus bei der Einrichtungsbranche – und Kadir Ates steht irgendwo dazwischen. An der Mülheimer Straße 36 vermietet er Autos und betreibe eine Shisha-Bar „Ich kann aktuell zumindest die Kosten decken“, zeigt sich der 33-jährige Familienvater erleichtert. Während er das Geschäft mit den Mietwagen während der Corona-Zeit aufrechterhalten konnte, kann er die Shisha-Bar zu seinem Unverständnis weiterhin nicht öffnen. „Ob man in einer Kneipe aus einem Glas trinkt oder bei uns eine Pfeife raucht: Was ist da der Unterschied?“, ärgert er sich. Die Autovermietung dagegen läuft – allerdings nur mittelmäßig. „Wir vermieten aktuell vor allem Transporter für Umzüge. Wohin sollen die Leute auch groß fahren?“
Zum Beispiel täglich zum Basketballplatz vor der Hans-Jansen-Halle, mit dem Fahrrad. Viktor Lamko ist hier fast täglich anzutreffen, um sich auch körperlich fit zu halten. Man kann ja nicht nur den Kopf trainieren, so wie es der 18-Jährige in der Corona-Zeit vor allem getan hat. „Für mich war die Zeit sehr gut, weil ich zu Hause in Ruhe viel Deutsch lernen konnte“, sagt der Grieche. Vor acht Monaten ist der Berufskolleg-Schüler mit seiner Familie für bessere Berufs- und Ausbildungschancen nach Oberhausen gezogen. Bei seinem flüssigen Deutsch könnte man meinen, der Umzug sei Jahre her.
Marvin L. (21) hat den Sport in den vergangenen Wochen etwas vernachlässigt, gibt er zu. Dafür ist er jetzt auf dem Weg ins Fitnessstudio an der Mülheimer. „Da halten sich viele nicht an die Regeln, aber das schreckt mich nicht ab“, sagt der künftige Azubi in der Finanzverwaltung. Die Corona-Einschränkungen habe er bislang gut verkraftet, die Freunde eben online beim Zocken getroffen. Oder im Alleingang verrückte Dinge an der Konsole ausprobiert, wie das erste Spiel der Kultserie Pokémon von 1999 in Rekordzeit zu meistern. „Hat aber nicht so gut geklappt.“
Anwohner: „Die Leute rücken einem auf die Pelle“
Auch Maurice Naundorf hat sich mit seinen Freunden regelmäßig beim Online-Zocken verabredet. Der digitale Austausch mit den Lehrern habe ebenfalls „ganz ordentlich geklappt“, sagt der 17-Jährige, der gerade auf dem Weg zum Arzt ist. Seine modische schwarz-rote Maske: eine Eigenkreation der Mutter, die in ihrer Freizeit für den guten Zweck genäht hat. „Normalerweise bin ich in meiner Freizeit viel draußen, gehe gerne tanzen, auf Festivals“, sagt Nicole Naundorf (41). „Jetzt musste ich die Zeit eben anders nutzen.“
Gerade erst sei sie negativ getestet worden, erzählt die Anwaltssekretärin. „In unserer Kanzlei gab es einen Corona-Fall, obwohl dort sehr auf die Hygiene-Regeln geachtet wird.“ Dass eine zweite Infektionswelle folgt, hält sie für realistisch. „Mit Eigenverantwortung wird das alles nicht klappen.“ Viele würden die Pandemie einfach nicht mehr ernst nehmen, beklagt auch Anwohner Manfred Vogten. „Mit Abstand ist nix mehr, die Leute rücken einem auf die Pelle“, beklagt der 83-Jährige, der höchstens eine gute Sache an der Corona-Zeit findet: dass es mal schön ruhig war auf der Mülheimer.