Oberhausen. Der 22. MuVi-Preis muss ohne den Charme der finalen Sichtung in der Oberhausener Lichtburg auskommen. Dabei glänzen die Musikvideos wie selten.
Guck mal da, das ist Kunst! Alles klar, das ist Kunst! Setz dich hin, das ist Kunst! Hand ans Kinn, das ist Kunst! Diese Songzeilen kann man sich mit etwas Fantasie in gelben Ratgeber-Büchern vorstellen. Auch wenn „Kurzfilmtage für Dummies“ in der bekannten Sachbuch-Serie für Einsteigerwissen noch nicht gedruckt wurde, so lassen sich dem Filmemacher Dietrich Brüggemann zumindest visuelle Anregungen andichten.
Sein Musikvideo „Kunst“ kann man als Spiegelbild verstehen, wie der beliebte Kurzfilmtage-Wettbewerb für die besten deutschen Musikvideos diesmal als reine Online-Ausgabe funktioniert. Die knapp vier Minuten zum Song des Indiepop-Duos Theodor Shitstorm zeigt Brüggemann aus der Smartphone-Perspektive. Mit Filter-Spielereien und weichgezeichneten Figuren. Mit großen Kulleraugen, schrägen Perücken und Kaugummi-Blasen. Alles schön wackelig im Hochkant-Format.
255 Clips zur Auswahl – zwölf im Finale
Perspektiven ändern sich diesmal bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen – und auch das liebgewonnene Drumherum ist nicht wiederzuerkennen. Normalerweise setzen sich die Cineasten zur MuVi-Verleihung am späten Samstagabend sogar auf die Treppenstufen des gedrängt vollen größten Saals der Lichtburg. Es wird zwischen den Clips vielsprachig geflüstert. Das Aroma aus geöffneten Bierflaschen zieht durch die Reihen – und man wünscht sich einleitend eine „schöne Projektion“.
Die Corona-Pandemie verbannt die Musikvideos von der großen Kinoleinwand nun aber auf manch kleinere Smartphones. 255 Einreichungen sichteten die Kurzfilmtage, zwölf Clips schafften es in die Endauswahl. Anders als sonst werden die Sieger erst am Montag mit den Preisgekrönten der Hauptwettbewerbe verkündet.
Süß-bittere Hymne der Wegwerfgesellschaft
Dabei lohnt sich es beim 2020er Jahrgang besonders, auf der Clip-Welle zu surfen. Eine Perle ist „Nolove“, gefiltert aus der Musikvideo-Tiefsee. Filmemacher Sergii Kushnir gestaltet die Electro-Teppiche des ukrainischen Klangtüftlers Etapp Kyle mit klinischer Brillanz, polierten Motiven und auf den Punkt getakteten Schnitten. Stark!
Das Prädikat „besonders witzig“ erarbeitet sich der Hamburger Entertainer Heinz Strunk mit „Abgelaufen“. Regisseur Roman Schaible verfrachtet den Künstler in die beobachtende Perspektive eines Vogelkäfigs, in dem der Musiker auf den Stangen in der Unterhose die Querflöte malträtieren darf. „Die Liebe ist ein Gefühl, Hunger auch.“ Eine süß-bittere Hymne an die Wegwerfgesellschaft.
Deichkind können sich nicht übertrumpfen
Zeichnerisch verzierte Gesichter in „Introspektion“ (Oliver Huntemann), wippende Wackeldackel in „Nackenwirbel“ (Minae Minae) und verwaschene Betrachtungsebenen in „Shadowbanned“ des Indierock-Grandseigneurs Stephen Malkmus von der US-Westküste: An Experimentierfreude mangelt es nicht.
Zwei Jurypreise und ein Publikumspreis
Der Wettbewerb MuVi-Preis wird durch die Kurzfilmtage bereits zum 22. Mal vergeben. Dieser beinhaltet zwei Jurypreise und einen Publikumspreis. Die Zuschauer konnten im Internet abstimmen.
Die Clip-Produktionen mussten aus Deutschland stammen – die Musik nicht, wie die Teilnahme der US-Indiegrößen Kim Gordon und Stephen Malkmus beweist. Die Autoren Max Dax (Deutschland) und Adam Harper (Großbritannien) sowie die Kuratorin Agnese Logina (Lettland) suchen in diesem Jahr die Sieger aus.
Bekanntester Musikername im Teilnehmerfeld sind die Hamburger Punk-Elektroniker Deichkind. Der Song „Wer sagt denn das?“ schallt als haushoher Favorit für den Publikumspreis. Allein 3,7 Millionen Fans haben sich den Clip auf der offiziellen Seite der Musiker auf YouTube schon angeschaut. Seinen monumentalen Gaga-Clip „Richtig gutes Zeug“ aus dem Berliner KaDeWe kann Regisseur Timo Schierhorn damit allerdings nicht toppen.