Oberhausen. Die Zahl der häuslichen Konflikte steige nicht an, erklärt Jugendamtsleiter Ertunc Deniz im Interview. Die Lage könnte sich jedoch verschärfen.

Seit zwei Wochen haben Schulen, Kindertagesstätten und Jugendzentren auch in Oberhausen geschlossen. Mehr als 30.000 Schüler und 8000 Kita-Kinder sind von der Maßnahme zur Eindämmung des Coronavirus' betroffen. Für sie gilt, wie für alle anderen Menschen auch: zu Hause bleiben. Experten warnen bereits davor, dass dadurch die häuslichen Konflikte zunehmen werden. Gerade Familien in schwieriger sozialer Lage stellt das vor große Herausforderungen und gleichzeitig auch jene Menschen, die sie betreuen: die Erziehungshelfer des Jugendamtes. Jugendamtsleiter Ertunc Deniz sprach mit Redakteur Sebastian Hetheier über die aktuelle Situation in Oberhausen. Deniz empfindet die Lage derzeit noch als "Ruhe vor dem Sturm", wappnet sich mit seinen Mitarbeitern aber bereits für härtere Zeiten.

Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise derzeit auf die Arbeit des Jugendamtes?

Ertunc Deniz: Die Corona-Krise und insbesondere der sogenannte Shutdown hatte zunächst mal eine Reihe von organisatorischen Folgen bei uns in der eigenen Verwaltung. Der Spagat zwischen angemessener Unterstützung unserer Klientel und dem notwendigen Schutz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollte und will organisiert werden. Wir haben hausintern alle fünf Regionalteams noch einmal in zwei kleinere Einheiten unterteilt. Damit soll gewährleistet werden, dass bei Ausfall einiger Mitarbeiter durch Infektionen oder Quarantäne der andere Teil noch einsatzfähig bleibt. Bisher hatten wir zum Glück noch keine konkreten Verdachtsfälle.

Aus Quarantäne-Städten wie dem chinesischen Wuhan wurde von einer drastischen Zunahme von häuslicher Gewalt berichtet. Experten warnen auch hierzulande davor. Wie stellt sich die Situation in Oberhausen dar?

Momentan erleben wir eher das gegensätzliche Phänomen. Auch eine telefonische Rücksprache mit der örtlichen Polizei ergab, dass wir bisher glücklicherweise noch kein erhöhtes Fallaufkommen erleben. Dies ist nach unserer gemeinsamen Einschätzung aber vermutlich nur die "Ruhe vor dem Sturm". Deshalb werden seitens der Stadt gemeinsam mit den freien Trägern zusätzliche Präventionsmaßnahmen entwickelt, die zur Stabilisierung von Familiensituationen und der Vermeidung häuslicher Gewalt dienen sollen.

Dennoch sind die meisten Menschen gerade zu Hause und besonders aufmerksam gegenüber dem, was in ihrer Umgebung passiert. Erreichen das Jugendamt in letzter Zeit mehr Hinweise aus der Bevölkerung zu häuslichen Problemfällen?

Auch hier gibt es aktuell kein auffällig erhöhtes Meldeverhalten. Wir gehen davon aus, dass sich dies in den nächsten Wochen verändern wird. Noch ist der Zeitraum recht kurz, in dem die Familien auf sich gestellt sind. Durch die Schulschließungen und den generellen Shutdown ist so etwas wie ein Stillstand entstanden, der sich jetzt noch nicht negativ bemerkbar macht. Wir hoffen darauf, dass dies möglichst lange anhält, aber wir sind hier sehr sensibel und sofort zur Stelle, wenn sich die Situation anders entwickeln sollte.

In welchem Umfang finden noch Hausbesuche statt?

Hausbesuche finden grundsätzlich noch statt, sind aber natürlich sehr eingeschränkt. Es gibt Anlässe insbesondere bei der Überprüfung von Kindeswohlgefährdungen, die eine persönliche Präsenz unserer Mitarbeiter vor Ort einfach erforderlich machen. Dieser Teil macht uns in der Praxis die größten Bauchschmerzen, weil wir natürlich eigentlich in einem Arbeitsfeld tätig sind, welches auf Kommunikation und persönliche Begegnung ausgerichtet ist. Dies ist aktuell leider nur noch eingeschränkt möglich. Wir versuchen den Kontakt zu unseren Familien so zu halten, indem wir sowohl mit ihnen selber in regelmäßigem telefonischen Austausch stehen als auch die von uns eingesetzten Träger in den Familien dafür nutzen. Hier gibt es zwischenzeitlich sehr kreative Ansätze der Kontaktaufnahme über Skype, Telefonkonferenzen, Social Media usw.

Wie verhält es sich mit der Vermittlung von Kindern in Pflegefamilien und notwendigen Inobhutnahmen? Finden diese noch statt?

Die Vermittlung in eine Pflegefamilie ist ein in der Regel zeitaufwändiger und mehrere Termine umfassender Prozess. Dies ist zurzeit natürlich nachvollziehbar ausgesetzt und findet nicht statt, soweit sie nicht bereits vorbereitet waren und nun nur noch umgesetzt werden müssen. Die notwendigen Inobhutnahmen finden über unsere Partner im Bereich der stationären Träger (etwa Caritas, Evangelische Jugendhilfe etc. - Anm. der Red. ) und in Pflegefamilien nach wie vor statt.

Wie schützen Sie Ihre Mitarbeiter vor Ort? Gibt es Schutzkleidung?

Explizite Schutzkleidung gibt es zurzeit noch nicht. Seit Anfang letzter Woche verfügen alle Teams über Atemschutzmasken. Ansonsten gelten die allgemein gültigen Regeln: direkte Kontaktvermeidung, Einhalten von Sicherheitsabständen, regelmäßiges Händewaschen.

Wie bewerten Sie die derzeitige Situation in der Notfallbetreuung in Kitas? Bislang wird das Angebot ja nur wenig genutzt.

Wir haben tatsächlich mit einem viel größeren Ansturm gerechnet. Selbst nachdem die Regelungen des Landes gelockert worden sind, nach denen nur noch ein Elternteil zu einem der "Schlüsselberufe" gehören muss, ist der Betreuungsbedarf sogar zurückgegangen. Die Eltern reagieren vernünftig und stellen eine private Betreuung sicher. Wir machen als Jugendamt tägliche Abfragen bei allen Trägern und können so sehen, wo wir bei der Notfallbetreuung eventuell nachsteuern müssen. Insgesamt stehen im Oberhausener Stadtgebiet 979 Notfallplätze in den Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege zur Verfügung. Stadtweit werden aber gerade einmal 122 Kinder in den jeweiligen Notfallgruppen betreut (Stand: 27. März).

Welche Auswirkungen wird der Shutdown mittel- bis langfristig auf Kinder und Jugendliche haben, die sie betreuen?

Ich denke, es gilt für die Kinder und Jugendlichen in der Jugendhilfe genauso wie für alle Kinder in unserer Gesellschaft gleichermaßen. Es ist eine bisher unbekannte Herausforderung, mit solch existenziellen Fragestellungen konfrontiert zu sein. Es ist schwer zu ertragen, sich selbst isolieren zu müssen oder zwangsweise isoliert zu werden. Das gesamte Freizeit- und Tagesgeschäft der Kinder und Jugendlichen ist auf den Kopf gestellt. Dies wir die große Herausforderung der nächsten Wochen werden, diesem Druck einerseits Stand zu halten und andererseits zur Stelle zu sein, wenn es an der ein oder anderen Stelle dann doch einmal eskaliert. Wir erleben die Familien und deren Kinder als sehr verständnisvoll und sie schaffen es zurzeit noch, sich dieser doch sehr ungewöhnlichen Situation zu stellen.

Notfälle beim Jugendamt melden

Wenn Eltern sich überfordert fühlen und Hilfe benötigen, können sie sich an die psychologische Beratungsstelle der Stadt Oberhausen wenden. Telefonisch unter 0208/61059-0 und per E-Mail an psych.beratung@oberhausen.de.

Die fünf Regionalteams der Jugendhilfe sind montags bis donnerstags von 8.30 bis 16.15 Uhr und freitags von 8.30 bis 13.00 Uhr über die jeweiligen Mobilfunknummern erreichbar: Mitte/Styrum: 0151/74671497; Ost: 0151/74671445; Alstaden/Lirich: 0151/74671067; Sterkrade: 0151/74674118; Osterfeld: 0151/74671420.

Zu allen anderen Zeiten haben die Regionalteams Rufbereitschaft. Kontakt bekommt man über die Polizei-Einsatzleitstelle 0208/826-4051 oder über die Leitstelle der Feuerwehr unter 0208/8585-1. In akuten Situationen mit Gefahr für Leib und Leben, sollte die 110 und 112 angerufen werden.

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