Oberhausen. Nicht die Atomkatastrophe von 1957, sondern Details der Ost-Diplomatie ließen vor 63 Jahren die „Westdeutschen Kulturfilmtage“ scheitern.
Auch in virtueller Form vor einem online versammelten Publikum „zählen“ die 66. Kurzfilmtage vom 13. bis 18. Mai 2020: Schließlich laufen trotz der Coronavirus-Pandemie die fünf Wettbewerbe, gehen wieder Preisgelder in Höhe von insgesamt rund 42.000 Euro an überwiegend junge Filmemacher, die in Oberhausen eine erste bedeutende Referenz für ihre Karriere erwerben. Doch ein einziges Mal in 67 Jahren sind die „Westdeutschen Kulturfilmtage“, wie sie damals hießen, tatsächlich komplett ausgefallen: 1957 wäre die vierte Auflage „dran“ gewesen, tatsächlich startete sie erst im Februar 1958.
Grund war damals keine Pandemie – und auch nicht die wohl gefährlichste Katastrophe des Jahres 1957, der im Westen kaum bekannte „Kyschtym-Unfall“: Die Explosion in der sowjetischen Atomanlage im Ural löste damals die schwerste nukleare Havarie (29 Jahre vor Tschernobyl) aus. Vielmehr erklärt die ihrer Zeit vorauseilende, progressive „Ostpolitik“ des Kurzfilmtage-Gründers Hilmar Hoffmann die Festival-„Havarie“ vor 63 Jahren. Und dagegen ließ sich damals noch kein Internet einsetzen – dessen frühester Vorläufer noch zwölf Jahre auf sich warten lassen sollte.
„Geprägt durch Restauration und Provinzialismus“
Im Oktober 1956 hatte Oberhausen erst die „III. Westdeutschen Kulturfilmtage“ gefeiert – mit einem Programm von 111 Einzelfilmen. Fürs Jahr 2020 hatte die Crew in der Kurzfilmtage-Villa mit über 500 Filmen aus 70 Ländern geplant. Damals aber gab es so beschaulich wirkende Programme wie „Tschechische Puppenfilme“, „Tiere im Film“ oder „Neue französische Schmalfilme“. In einem umfassend auf die frühen Jahre zurückblickenden Interview, das Klaus Behnken und Lars Henrik Gass für den Jubiläumsband „Kurz und klein“ mit Hilmar Hoffmann führten, scheint der Pionier diesen Eindruck zunächst zu bestätigen: „Wir lebten wenige Jahre nach dem Krieg in einer Zeit, die politisch durch Restauration und kulturell durch Provinzialismus geprägt war.“
Dagegen stemmte sich Deutschlands jüngster VHS-Direktor Hoffmann mit Blick auf die Avantgarde – und nach Osteuropa. Für beides stand damals Roman Polanski, dessen absurdes Frühwerk „Zwei Männer und ein Schrank“ das Publikum in Oberhausen zugleich mit dem coolen polnischen Jazz bekannt machte. Als die schrägen Strandszenen mit wuchtigem Möbelstück 1958 preisgekrönt wurden, zeigten die „IV. Westdeutschen Kulturfilmtage“ bereits 190 Filme aus 29 Ländern – und hatten dabei die Wahl aus 320 Einreichungen.
Der zweite deutsche Staat und die Anführungszeichen
Doch 1957? In diesem Jahr scheiterte man am „sowjetsolidarischen Gefolge“, wie Hilmar Hoffmann es rückblickend auf den Punkt brachte: „Weil wir nicht bereit waren, die DDR so anzukündigen, wie deren stellvertretender Kulturminister dies verlangte“. Müssen die Gastgeber die Abkürzung ausschreiben? Sollten sie, im Gegenteil, konsequent „DDR“ schreiben, wie es die Springer-Presse praktizierte? Bei den Kurzfilmtagen schrieb man später gewitzt nur vom „Club der Filmschaffenden der DDR“: So waren zwar Anführungszeichen da – ohne dem zweiten deutschen Staat zu gelten. Das nennt man wohl hohe Diplomatie.
„Legendary Shorts“ machen Filmschätze zugänglich
Den Kurzfilmtagen ist zwar in der frühen Zeit ein Jahr verloren gegangen – doch für die Meisterwerke aus den 1950ern gilt das nicht: Wer etwa Roman Polanskis „Zwei Männer und ein Schrank“ auf seinem PC anschauen möchte – für den gibt’s die „Legendary Shorts“ auf kurzfilmtage.de.
Viele der inzwischen legendären Kurzfilme – von George Lucas bis Yoko Ono – kann man heute online finden. In der Kurzfilmtage-Villa hat man sich auf die digitale Suche nach diesen Schätzen begeben, für eine komfortable Liste von Links gesorgt – und diese zuerst auf der eigenen Facebook-Serie „Legendary Shorts“ öffentlich gemacht, mit einem Film pro Woche.
Dank des großen Erfolgs – und um die raren Fundstücke nicht wieder in der Bilderflut des Internets zu verlieren – finden sich die „Legendary Shorts“ auch auf der „Kurzfilmtage“-Webseite.
Den Konservativen der Adenauer-Zeit galten die Kurzfilmtage ohnehin als „rotes Festival“, wie sich Hilmar Hoffmann erinnerte. „Geld aus Bonn haben wir bis zu meinem Abgang 1970 nicht gesehen.“ Der Chef der Kurzfilmtage hielt Kurs – obwohl 1957 nur noch Jugoslawien als realsozialistischer Staat bereit war, eine Delegation nach Oberhausen zu entsenden. Daraus sollte in den 1970ern eine besonders intensive Zusammenarbeit erblühen.
1958 führte das Festival zum letzten Mal das verzopfte Wochenschau-Prädikat „Kulturfilmtage“ – und etablierte stattdessen ein neues Motto: „Weg zum Nachbarn“. Die nach Oberhausen entsandte Kritikerin der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ erkannte, welche Filmkunst in den eben nicht nur niedlichen Puppen- und Zeichentrickfilmen aus dem Osten steckt: „Vorbildlich wahrten sie das filmische Gesetz, dass Worte erst einzusetzen haben, wenn das Bild nicht mehr ausreicht.“
Das „rote Festival“ blickte auch gen Westen
Allerdings weitete das „rote Festival“ auch den Blick nach Westen zu den Kollegen in Annecy und Clermont-Ferrand. Vom zwei Jahre jüngeren Cork Film Festival in Irland „erbeuteten“ die Kurzfilmtage sogar eine Eminenz der englischsprachigen Filmkritik: Der Schotte John Grierson gilt als Erfinder des Begriffs „documentary“ – und präsidierte 1960 in Oberhausen der Internationalen Jury. Mit Anlaufschwierigkeiten waren die Kurzfilmtage weltläufig geworden.