Oberhausen. Was bewegt eine Frau dazu, mit ihren drei kleinen Kindern nach Syrien zu reisen, um Terroristen zu unterstützen? Die Mutter wagt eine Annäherung.

  • Eine junge Frau sitzt als mutmaßliche Kriegsverbrecherin und Terror-Helferin des IS in Untersuchungshaft.
  • Die Generalbundesanwaltschaft erhebt schwere Vorwürfe: Die 32-Jährige soll mit ihren drei Kindern nach Syrien gereist sein und sich um die Geldgeschäfte der Terroristen gekümmert haben.
  • Hier erzählt ihre Mutter, eine 57-Jährige aus Oberhausen, ihre Geschichte.

Das Schellen ist gerade verhallt, da öffnet sich auch schon die Wohnungstür. Lächelnd steht Josefin S. im großzügig geschnittenen Flur ihres mehrstöckigen Wohnhauses in Oberhausen. Der Tisch ist gedeckt, der Kaffee fertig. Es wirkt alles so normal, so bürgerlich. Doch von Normalität kann im Leben der 57-Jährigen keine Rede sein. Ihre Tochter Carla sitzt als mutmaßliche Kriegsverbrecherin und Terror-Helferin der brutalen Truppe des „Islamischen Staates“ (IS) in Untersuchungshaft.

Die Generalbundesanwaltschaft erhebt schwere Vorwürfe gegen die heute 32-jährige Carla S. Im Herbst 2015 ist die Oberhausenerin mit ihren drei kleinen Kindern – damals drei, sechs und sieben Jahre alt – nach Syrien gereist, in das Gebiet des von der IS-Terrormiliz ausgerufenen Kalifats. Dort soll sie sich um Geldgeschäfte der Terroristen gekümmert haben und Mitglied der IS-Frauen-Kampfeinheit „Katiba Nusaiba“ gewesen sein.

Kinder zur öffentlichen Hinrichtung mitgenommen

Nach Ermittlungen der Staatsanwälte soll Carla S. ihre Kinder von den IS-Islamisten nicht nur streng erzogen lassen, sondern auch besonders perfide gehandelt haben: Ihre Kinder nahm sie demnach zu einer öffentlichen Hinrichtung mit, ihren sechsjährigen Sohn schickte sie in ein militärisches Ausbildungslager für Kindersoldaten. Als der Junge die IS-Ideologie vorsichtig anzweifelte, soll Carla S. ihren eigenen Sohn an die „Religionspolizei“ des IS verraten haben, deren Mitglieder das Kind dann züchtigten. Für den Fall eines Angriffs soll sie eine Handgranate mitgeführt haben – um möglichst viele „Feinde“, sich selbst und ihre Kinder zu töten.

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Wie konnte es nur so weit kommen? Diese Frage treibt Carlas Mutter Josefin S. immer wieder um, grübelt und grübelt – doch richtig stichhaltige Antworten findet sie darauf kaum. Sie könne es sich auch nicht erklären, sagt sie traurig. Als Carla 15 Jahre alt ist, lassen sich die Eltern scheiden. „Mitten in der Pubertät hat sie wohl den familiären Zusammenhalt verloren“, mutmaßt ihre Mutter. Das Mädchen habe sich von ihr abgewandt, traf immer öfter muslimische Freunde. „Dort erlebte sie ein großes Gemeinschaftsgefühl, einen großen Zusammenhalt. Da war jeder für den anderen da. Das hat ihr enormen Halt gegeben.“ Mit 17 Jahren wird Carla Muslimin, legt das Kopftuch an und betet plötzlich fünf Mal am Tag.

Komplett verhüllt durch die Innenstadt gelaufen

Gerade volljährig heiratet Carla S. einen Mann muslimischen Glaubens. Viel zu früh, ohne Berufsausbildung, die sie hätte unabhängig machen können, wirft ihr die Mutter heute vor. Sie habe die großen kulturellen Unterschiede unterschätzt, habe sich keine Zeit genommen, den Partner und dessen Familie kennenzulernen. Sie habe doch das Zusammenleben zunächst „üben“ sollen, ehe sie heiratet.

Josefin S. in ihrem Wohnhaus in Oberhausen.
Josefin S. in ihrem Wohnhaus in Oberhausen. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

2008, 2009 und 2012 bringt Carla S. ihre Kinder zur Welt. Doch in der Ehe gibt es offenbar Probleme. Ihre Tochter habe sich in dieser Zeit immer stärker verändert, flüchtete zunehmend in den Glauben. „Sie hat rebelliert und sich islamistischem Gedankengut zugewandt, weil sie wusste, dass dies ihrem Mann nicht gefallen würde.“ Zu zweifelhafter Berühmtheit bringt es Carla S. in Oberhausen, als sie komplett verhüllt regelmäßig durch die Innenstadt läuft. „Ich habe mich fürchterlich erschreckt, als ich mein Kind zum ersten Mal in der Burka sah“, erzählt Josefin S.

Mit kleinen Kindern in ein Bürgerkriegsland

Eine junge Deutsche trägt zwar Burka, doch was bewegt sie, mit ihren kleinen Kindern in ein von Terror und Bürgerkrieg zerstörtes Land zu reisen? „Grenzenlose Naivität“, meint die Mutter und holt tief Luft. Ihre Tochter sei durch die vermeintlichen Freunde zunehmend radikalisiert worden. Eine Freundin habe dann den Anfang gemacht und sei nach Syrien gereist. „Ist gar nicht so schlimm wie die Medien berichten“, soll sie Carla S. am Telefon erzählt haben.

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Vor solchen „Mädchen-Netzwerken“ des IS warnten die deutschen Sicherheitsbehörden bereits 2015, dem Jahr der Ausreise von Carla S. Die Geheimdienstler haben beobachtet, wie sehr speziell geschulte Anwerberinnen der Terrororganisation junge Frauen als Zielobjekte betrachten: Sie nutzen typische emotionale Krisen pubertierender Mädchen und junger Frauen, preisen Solidarität und Gemeinschaftserlebnis der Kampfverbände – und unterstützen sie bei der Einreise ins Bürgerkriegsland Syrien. Carla S. soll so zunächst in einem IS-Frauenhaus in der syrischen Stadt Raqqa untergekommen sein.

Zwei Männer in Syrien geheiratet

Trotz ihrer existierenden Ehe in Deutschland heiratet Carla nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden gleich zwei weitere Männer in Syrien - nach islamischem Recht. Sie bekommt ein weiteres Kind. Doch mit der Zeit wird es nicht nur für sie immer gefährlicher, der IS wird militärisch zunehmend zurückgedrängt. Der älteste Sohn von Carla S. soll sogar bei einem Raketenangriff getötet worden sein. Mit den verbliebenen drei Kindern entschließt sich die Oberhausenerin zur Flucht.

Dieses Bild hat Carla S. in der Haft für ihre Familie gemalt.
Dieses Bild hat Carla S. in der Haft für ihre Familie gemalt. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Mutter Josefin S. ist sogar bei der Flucht vor Ort. Die 57-Jährige reist im April 2019 in die Türkei, um im syrischen Nachbarland mit Hilfe von türkischen Antiterroreinheiten die Flucht ihrer Tochter und der Enkelkinder zu dirigieren. Wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt harrt sie aus, starrt auf ihr Handy. In der Hoffnung, endlich die erlösende Nachricht zu bekommen: Carla und ihre Kinder werden in ein türkisches Lager gebracht. Nicht in Freiheit, aber immerhin in Sicherheit. „Für mich zählten in erster Linie meine Enkelkinder, die ich da rausholen wollte. Erst dann kam meine Tochter“, erzählt Josefin S. offen. Seit der Verhaftung leben ihre Enkel bei deren Vater – auch das Kind, das in Syrien geboren wurde.

Im Gefängnis fließen Tränen

Carla S. wird sich vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf verantworten müssen, der Prozess beginnt am 6. März. Josefin S. traut sich keine Prognose zum Ausgang des Prozesses zu, rechnet aber mit einer mehrjährigen Haftstrafe. So nüchtern das klingt, im Gespräch merkt man der Mutter an, wie sehr sie darunter leidet, dass ihre Tochter im Gefängnis sitzt. Ihr gehe es sehr schlecht. „Beim letzten Besuch hat sie sehr viel geweint.“ Sie dürfe ihre Kinder zwar sehen, aber nicht umarmen. „Sie bereut, was sie getan hat, sagt: Mama, Extremismus ist keine Lösung.“ Den muslimischen Glauben habe sie behalten. „Das darf sie auch, das ist vollkommen in Ordnung. Sie trägt aber nun keine Burka mehr, noch nicht einmal ein Kopftuch. Das erleichtert mich.“

Ausbildung am Sturmgewehr

Die Anklage der Bundesanwaltschaft gegen Carla S. ist lang. Ihr wird unter anderem vorgeworfen, Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen zu sein. Auch ein Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz wird ihr zur Last gelegt. Einer ihrer IS-Ehemänner soll sie den Umgang mit einem Sturmgewehr gelehrt haben.

Da sie gegen den Willen des Kindsvaters nach Syrien gereist sein soll, muss sie sich wegen der Entziehung Minderjähriger verantworten – in einem Fall mit Todesfolge. Ihr ältester Sohn ist laut Ermittler bei einem Raketenangriff getötet worden.

Zuvor soll sie ihn in ein Ausbildungslager des IS gesteckt haben. Er hat laut Anklage gelernt, mit scharfen Waffen zu schießen und musste Wachdienste absolvieren. Nach deutschem Recht gilt dies als Kriegsverbrechen.

Sie schmiedet schon jetzt Pläne für die Zeit nach der Haft, um der Tochter zu helfen, eine neue Existenz aufzubauen. „Mit ihrer Vorgeschichte bekommt sie bestimmt nie wieder einen Job.“ Vorstellbar sei aber, ein kleines Familienunternehmen zu gründen. Josefin S. ist gelernte Kürschnerin und Schnittdirektrice für Damenoberbekleidung. „Und meine Tochter ist kreativ, zeichnet in der U-Haft mit einfachen Mitteln wunderschöne Bilder.“ Das könne man doch verbinden, Schnittmuster entwerfen und Mode kreieren. Es ist eine Vision, die ihr Trost bringt: „Eine kulturell verbindende Modelinie, die Westliches und Muslimisches vereint.“