Oberhausen. Franziska Henschel zeigt in anderthalb Stunden soviel, wie von Wolfram Lotz’ überbordenden Text „Einige Nachrichten an das All“ möglich ist.
Theater zum Mitlesen: Eine kleine, traurige Geschichte vom Unfalltod eines Kindes läuft als Schriftband über die runde Leinwand im Saal 2 des Theaters: „Wenn ich es nicht erzähle, werde ich doch zu einem Roboter des Schmerzes.“ So beginnt Wolfram Lotz’ Textmasse „Einige Nachrichten an das All“ – jedenfalls in der zügig auf knapp anderthalb Stunden gestrafften Inszenierung von Franziska Henschel.
Was soll man anfangen mit einem vermeintlichen Dramentext, ausgestattet mit 64 Fußnoten, und einem Personal, das ein 30-köpfiges Großensemble über-beanspruchen würde? Franziska Henschel macht die Fünf vor der kleinen Zuschauertribüne zu Puppenspielern, lässt die Stimmen von jeweils drei weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern dazu einspielen – und gibt Wolfram Lotz’ verwirrendem Werk womöglich mehr Tiefe, aber ganz gewiss mehr Stringenz, als eigentlich drinsteckt.
Starkes Ensemble und eine nicht bloß verspielte Inszenierung
Bis sich rund um die Showmaster-Gestalt des alerten bis zynischen „Leiters des Fortgangs“ (kurz LdF, mit Hingabe gestaltet von Mervan Ürkmez) doch noch ein Handlungsfaden entspinnt, könnte man versucht gewesen sein, sich auszuklinken. Nichts als „Meta“: Betrachtungen über Betrachtungen und strukturanalytische Spiegelfechtereien. Da braucht es schon ein starkes Ensemble und eine nicht bloß verspielte Inszenierung, um nicht gleich genervt abzuwinken.
Drei weitere „All“-Termine
Termine sind knapp für die nächsten Aufführungen von „Einige Nachrichten an das All“ im Saal 2 des Theaters – nämlich am Mittwoch, 18. Dezember, und an den Freitagen, 3. und 10. Januar.
Karten kosten jeweils 14 Euro, ermäßigt 5 Euro, Theaterkasse 0208 8578 184, online theater-oberhausen.de
Und die hat’s in Oberhausen glücklicherweise – auch dank jener Puppen aus der Berliner „Helmi“-Werkstatt von Florian Loycke. Die sind vor Hässlichkeit schön – oder korrekt formuliert: eine ästhetische Herausforderung. Aber die grotesken Grimassen ermöglichen auch ein höchst variables Spiel in jenem riesigen Trichter von Bühnen- und Kostümbildnerin Johanna Fritz, der die Szenen effektvoll einfasst.
Das Mantra: „Nur keine Leere aufkommen lassen“
Getriezt von Mervan Ürkmez als Zeremonienmeister (pardon: als „LdF“) beweist sich am Premierenabend vor allem Anna Polke als grandiose Puppen-Schauspielerin. „Alles kommt vor und – husch – ist es wieder vorbei“, lautete die schön sachlich eingesprochene Fußnote 1. „Nur keine Leere aufkommen lassen“, lautet das Mantra des LdF, changierend zwischen Herablassung und aufkommender Panik.
Um „Einige Nachrichten an das All“ senden zu können, bittet der Leiter des Fortgangs einige „Persönlichkeiten aus Historie und Medien“ um ihre Statements: Zu Wort kommt eine „dicke Frau“, die allerdings aus ihrer Talkshow gestrichen worden war. Prompt fertigt auch der LdF ihre mit schönster Stimme gesprochene Epiphanie des Trostes ab. Die nächste Puppe verkörpert den eigenwilligen Forscher Rafinesque, den im Mai 1835 eine ganz andere Erleuchtung ereilt hatte: „Die Welt ist ein Wirrwarr!“ Jede wissenschaftliche Ordnung wäre folglich die reine Willkür.
Atmosphärisch hinreißend gestaltet
„Dieser Kleist mit seinem beschissenen Zynismus“, wie Anna Polke ächzt – Heinrich von Kleist also, der sich mit gerade 34 Jahren 1811 am Kleinen Wannsee erschossen hatte, verleitet die fünf Akteure zu einer großen Etüde des Konjunktivs. Dazu Fußnote 16: „Die Worte bauen einem ein Haus, in dem kann man nicht wohnen.“ Ausgerechnet Kleist, der Wortmächtige, verweigert sich sprachlos dem LdF.
Dominik Mahnig, der bisher an seinem Schlagzeug eher sanft säuselnde Ambient-Klänge beigetragen hatte, setzt an zu einem donnernden Furioso. Der Chor der Fußnoten-Sprecher liest von der Tribüne fünf verschiedene Texte. Wie gesagt: fürchterlich „meta“-mäßiges Sprechen über das Sprechen. Aber atmosphärisch so hinreißend gestaltet, dass alle sitzenbleiben, um auch noch das letzte Textfragment vom verschwindenden Schriftband abzulesen. Herzlicher Applaus.