Oberhausen. Seit 25 Jahren erforschen Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt die Vergangenheit ihrer Stadt. Dabei legten sie immer wieder den Finger in Wunden.
Da waren einmal drei junge Männer aus Oberhausen, die an der Ruhruniversität Bochum Geschichte studierten. „Hier läuft ‘was falsch in der Schlaumachfabrik“, dachten sich die angehenden Historiker vor knapp drei Jahrzehnten, so erzählt es André Wilger.
Was aus Sicht von Wilger, Frank Dittmeyer und Joachim Thommes falsch lief: Die Geschichte der kleinen Leute, des Alltags fand in der Forschung keine oder zu wenig Berücksichtigung. Der Blick zurück – bestimmt durch die Brille der Mächtigen und Herrschenden. Die Vergangenheit – eine Chronologie von Ereignissen, deren eindeutige Auslegung durch die Professoren den Studenten suspekt war. Dazu die Tabuthemen Nationalsozialismus, Zwangsarbeit, NS-Euthanasie: „Gerade junge Menschen hatten das Gefühl, dass die Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Deutschland noch etliche Leerstellen aufwies“, schreibt André Wilger in seinem Beitrag zum neuen „Schichtwechsel“.
Die Lösung vor 25 Jahren für die Oberhausener: „Geschichte aus dem Elfenbeinturm herausholen, die Erforschung vor Ort selbst in die Hand nehmen“, sagt André Wilger, der zusammen mit Joachim Thommes und dem mittlerweile verstorbenen Frank Dittmeyer im Oktober 1994 Gründungsmitglied der Geschichtswerkstatt Oberhausen war. Werkstatt, das klingt nach ehrlicher Arbeit, nach Handwerk, nach Anpacken und kommt auch in der Idee des schwedischen Autors Sven Lindquist zum Ausdruck, dessen Buch „Grabe, wo du stehst“ die Bewegung der Geschichtswerkstätten in Deutschland beeinflusst hat. Solche Initiativen gründeten sich seit Ende der 1970er Jahre bereits in anderen Städten, ab 1994 sollte nun auch in Oberhausen die „Geschichte von unten“ betrachtet und Geschichtsschreibung demokratisiert werden.
Demokratisch heißt auch: Jeder kann bei der Geschichtswerkstatt mitmachen, studierter Historiker muss ein Interessent nicht sein. Die „Schwarmintelligenz“ (Wilger) hilft bei den Methoden, die Geschichte zu ergründen: Quellenforschung (auch jenseits des klassischen Archivmaterials), Interviews mit Zeitzeugen oder Textarbeit. Zentrale Themen beim Graben in der Vergangenheit: Was haben die Zeitläufte für die Menschen in dieser Stadt bedeutet? Wie wirkte sich hier Weltpolitik aus? Arbeiter-, Frauen-, Sozial- und Migrationsgeschichte standen und stehen im Mittelpunkt.
Keine Schnittchen, aber Theater
Seit 2005 hat die Geschichtswerkstatt ihre Räume auf dem Gelände der ehemaligen Zinkfabrik Altenberg an der Hansastraße 20. Dort wird das Jubiläum zum 25-Jährigen am Samstag, 30. November, auch gefeiert: Der Verein lädt unter dem Motto „Geschichte wird gemacht – es geht voran!“ zu einer Theater-Veranstaltung in die Schlosserei des Zentrums Altenberg ein.
„Schnittchen und Reden wird es nicht geben“, versprechen die Geschichtswerkstattler, dafür eine inszenierte Reise durch die Zeit der Frauenbewegung: Die Schauspielerinnen Veronika Maruhn und Sabine Paas schlüpfen in verschiedene Frauenrollen (Claire Waldoff, Clara Zetkin oder Alice Schwarzer) und halten flammende Reden oder tragen Lieder vor. Der Eintritt ist frei, Beginn um 19 Uhr, um Anmeldung wird gebeten unter info@geschichtswerkstatt-oberhausen.de oder 0208-3078350.
Im neuen „Schichtwechsel“, der in den nächsten Tagen erscheint, gibt es unter anderem einen ausführlichen Bericht von Gründungsmitglied André Wilger zum 25-Jährigen.
Die Arbeit der Geschichtswerkstätten allgemein habe viel bewirkt, ist sich das heutige Kernteam mit André Wilger, Christoph Strahl und Klaus Offergeld sicher. Methoden und Themen haben Eingang gefunden in die historische Wissenschaft, „das hat in alle Institutionen hineingewirkt“. Aber auch die eigene Bilanz könne sich nach 25 Jahren sehen lassen, „wir haben es immer wieder geschafft, früh auf weiße Flecken in der lokalen Geschichtsbetrachtung hinzuweisen und die richtigen Fragen zu platzieren“, sagt Wilger. So habe die Geschichtswerkstatt schon vor sechs Jahren über die NS-Karriere des Bildhauers Willy Meller geschrieben, dessen Skulptur „Die Trauernde“ vor der Gedenkhalle steht und dessen Werdegang die Gedenkhalle nun mit der Ausstellung „Risse im Stein“ aufarbeitet. Schon 1995 war der Verein beteiligt an dem Bürgerantrag „Aufarbeitung der NS-Zeit in Oberhausen“ und an dem Runden Tisch, der sich in der Folge gründete.
Den Finger in die Wunde legte die Geschichtswerkstatt auch bei einer Ausstellung, die der Kaufhof an der Marktstraße zur eigenen Geschichte organisiert hatte. Dass diese auf der Arisierung des ehemaligen Kaufhauses Tietz beruhte und die Eigentümer, die jüdische Familie gleichen Namens, von den Nationalsozialisten enteignet worden war, hatten die Macher der Ausstellung „vergessen“. Auf einem Foto in der Schau war das Hakenkreuz weg retouchiert. Für Aufregung sorgte ebenfalls ein historischer Liederabend, den die Geschichtswerkstatt mitorganisiert hatte: Die Premiere war im November 2001, „Unter Geiern“ wollte die „Kontinuität von Rassismus in der deutschen Geschichte und Politik aufzeigen“, sagt Wilger. Auf dem Ankündigungsplakat unter anderem zu sehen: Kaiser Wilhelm II., Adolf Hitler – aber auch Konrad Adenauer (CDU), Gerhard Schröder (SPD) oder Joschka Fischer (Grüne). In der Nachbarstadt Bottrop durfte das Plakat nicht aufgehängt werden, später interessierte sich das Deutsche Plakatmuseum dafür.
Neben den Aufregern hat sich die Geschichtswerkstatt einen Namen mit ihren Publikationen gemacht: Zweimal im Jahr erscheint der „Schichtwechsel“, es gibt die Reihe „Vielfalt – Oberhausener Frauengeschichte(n)“, das Buch „40 Jahre Wohnen an der Bebelstraße“ oder die vergriffene Broschüre „Die Parklandschaft Westfriedhof Lirich“. Dazu kamen und kommen Ausstellungen wie „Geschichte(n) von Migration in Oberhausen“, der regelmäßig von der Geschichtswerkstatt veranstaltete Flohmarkt „Buchgestöber“ oder Führungen wie der Rundgang „Oberhausen unterm Hakenkreuz“.
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Rund 250 Fördermitglieder hat der Verein, der sich dadurch oder durch Spenden, die Abonnenten des „Schichtwechsels“, Zuschüsse der Stadt oder Projektmittel finanziert. Die meiste Arbeit wird ehrenamtlich geleistet. „Um die Zukunft der Geschichtswerkstatt wird uns nicht bange“, sagt der 57-jährige André Wilger, es gebe noch genug Aufgaben und weiße Flecken, „und mit manchen Themen wird man nie fertig“.