Oberhausen. Wenn Lehrer oder Sozialarbeiter Jugendliche auf dem Weg zur Radikalisierung, zum Salafismus oder Islamismus entdecken, sollen sie sich Rat holen.

Für niemanden ist es einfach, damit umzugehen. Wenn ein Schüler sich zunehmend merkwürdig verhält und Lehrer den Eindruck haben, da rutscht einer auf die ganz fundamentalistische religiöse Schiene ab, radikalisiert sich – und wird darin auch noch womöglich von der eigenen Familie unterstützt: Wie soll man da handeln?

Für solche Fälle gibt es mitten in Alt-Oberhausen an der Bogenstraße 32 seit einem Jahr ein Büro mit zwei Fachleuten. Das Landesprojekt „Wegweiser“ will Multiplikatoren, Angehörige, aber auch Betroffene selbst beraten, wie man verhindert, dass da jemand Schritt für Schritt weiter abdriftet. Und angemessen einschreitet.

Verdacht auf Islamismus

„In einem Fall hat ein Schulleiter ohne Absprache mit der Sozialarbeiterin an der Schule einen Brief an die Familie geschrieben, es bestehe hier ein Verdacht auf Islamismus. Das war kontraproduktiv, denn die Schulsozialarbeiterin versuchte gerade vorsichtig, sich der Familie zu nähern“, erzählt einer der Fachleute – die aus Sicherheitsgründen ihre Namen nicht erwähnt haben wollen – einer 40-köpfigen Gruppe von Oberhausener und Mülheimer Vertretern von Verbänden, Schulen und Jugendzentren in der Ruhrwerkstatt im Gewerbegebiet am Max-Planck-Ring.

Die Beratungsstelle „Wegweiser - gemeinsam gegen gewaltbereiten Salafismus“ wurde am 24. August 2018 in Oberhausen/Mülheim in der Ruhrwerkstatt in Oberhausen eröffnet. Im Bild (von links): Oberhausens Oberbürgermeister Daniel Schranz, NRW-Innenminister Herbert Reul, NRW-Verfassungsschutzleiter Burkhard Freier und Mülheims Oberbürgermeister Ulrich Scholten.
Die Beratungsstelle „Wegweiser - gemeinsam gegen gewaltbereiten Salafismus“ wurde am 24. August 2018 in Oberhausen/Mülheim in der Ruhrwerkstatt in Oberhausen eröffnet. Im Bild (von links): Oberhausens Oberbürgermeister Daniel Schranz, NRW-Innenminister Herbert Reul, NRW-Verfassungsschutzleiter Burkhard Freier und Mülheims Oberbürgermeister Ulrich Scholten. © FUNKE Foto Services | Zoltan Leskovar / FUNKE Foto Services

„Wegweiser“ wirbt in dem Tagesseminar darum, sich rechtzeitig Unterstützung zu holen, wenn Verdacht besteht, da nähere sich jemand der salafistischen bzw. islamistischen Szene an. Die Erfahrung des „Wegweiser“-Büros, das Unterschlupf bei der Ruhrwerkstatt erhielt, mit Oberhausener Akteuren ist nach eigener Darstellung im ersten Jahr nach Eröffnung recht gut. „Man kennt uns bereits und nimmt unsere Hilfe in Anspruch“, heißt es. Im August 2018 hatten Oberbürgermeister Daniel Schranz und NRW-Innenminister Herbert Reul die neue Wegweiser-Beratungsstelle für Oberhausen und Mülheim offiziell eröffnet.

Islamischer Staat noch gefährlich?

Doch ist die islamistische Szene nach dem Zusammenbruch des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) im Nahen Osten überhaupt noch gefährlich? Verfassungsschützer Uwe Peuker, Leiter des NRW-Aussteigerprogramms Islamismus, warnt mit den „Wegweiser“-Fachleuten davor, die radikale und werbeträchtige Kraft des radikalen religiösen Fundamentalismus zu unterschätzen. Die Propaganda vor allem im Netz über Youtube läuft nach deren Beobachtung intensiv weiter, spielt geschickt mit jugendkulturellen Elementen und nimmt Deutschland in den Fokus.

„Die Jugendlichen sind wie alle in der Pubertät auf der Suche nach dem Sinn, auf der Suche nach der eigenen Persönlichkeit – und glauben nach der Propaganda im Internet, den wahren Islam gefunden zu haben“, sagt Peuker. Was die Jugendlichen anzieht: Da sagt endlich einmal jemand ganz klar ohne komplizierte Grau-in-Grau-Verästelungen, was man zu tun und zu lassen hat. Und sie fühlen sich endlich einmal anerkannt und wertgeschätzt. „Wenn dann jemand zu hören bekommt, brich doch die Schule ab, weil es hier um etwas Höheres gehe, dann wird der dazu verführt, wenn er ohnehin Probleme in seinem Alltag hat.“

Jugendliche religiös recht ahnungslos

Dabei seien die Jugendlichen in der Regel religiös recht ahnungslos, kennen den echten Kern des Islams gar nicht und erlebten nur die radikale Variante. In NRW stuft man jetzt 3000 Menschen als Islamisten ein – auf diese Zahl hat sich die Szene mittlerweile stabilisiert, nachdem sie seit dem Jahr 2011 mit damals 500 Salafisten stark gestiegen ist.

So erreicht man die Beratungsstellen

Das „Aussteigerprogramm Islamismus“ (API) ist 2014 aufgelegt worden. Die Fachleute betreuen derzeit 64 Personen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Zwei Drittel von ihnen sind als Gefährder eingestuft, ein Drittel sind Rückkehrer. Ein Viertel der betreuten Fundamentalisten sind Frauen. Kontakt: Internetseite: api.nrw.de, Mail: kontakt@api.nrw.de, Telefon 0211-837-1926.

Das „Wegweiser“-Projekt ist ein Präventionsprogramm des Landes NRW. Kontakt: Telefon: 0208-8575632, Mail: wegweiser@ruhrwerkstatt.de, Internet: www.ruhrwerkstatt.net, oder persönlich: Bogenstraße 32, Alt-Oberhausen.

Ob aber Prävention vor Islamismus („Wegweiser“) oder die Arbeit mit Fundamentalisten, die umkehren wollen („Aussteigerprogramm“) – bei beiden Programmen spielt in für Laien erstaunlich wenigen Fällen der religiöse Diskurs eine Rolle, den die Berater meist auch nicht ohne Hilfe eines Imams übernehmen können. Es geht in 95 Prozent dieser Gespräche darum, das Problembündel des abgerutschten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu lösen: Schule, Familie, Freunde, Perspektivlosigkeit, psychische Erkrankungen, Schulden. „Religion dient den Jugendlichen hauptsächlich als Ausdruck ihres Protestes gegen die hiesige Gesellschaft.“ Und natürlich gehe es nicht darum, Menschen von ihrem Glauben, ihrer Religion abzubringen.

Vermehrt klingeln Rückkehrer beim Verfassungsschutz an

Seit der Niederlage des IS klingeln bei den NRW-Verfassungsschützern vermehrt Deutsche an, die aus Syrien wieder zurückkehren wollen – die einen geläutert, die anderen auf eine mildere Strafe hoffend. Sie alle wollen am Aussteigerprogramm teilnehmen. Aber nicht alle werden hier aufgenommen, ihr Ansinnen wird genau überprüft.

Zwei bis fünf Jahre dauert es, bis ein einstiger Islamist wieder richtig im Zivilleben ankommt: Sie haben weder Wohnung noch Beruf oder Zukunftsperspektive. Und sie werden auch von ihren früheren ideologischen Begleitern ernsthaft bedroht. „Manchmal hilft nur ein Namenswechsel, damit die Person wieder eine reelle Chance hat, einen Arbeitsplatz zu finden“, sagt Peuker. Denn wenn die Arbeitgeber googeln, dann finden sie unter dem alten Namen merkwürdige Videos mit Radikal-Reden oder ähnliches, von dem sich der einstige Fundamentalist allerdings klar losgesagt hat. Und damit ist es normalerweise vorbei mit dem Job – und oft mit der Zukunft.