Oberhausen. In den Stadtteilen Holten, Lirich, Osterfeld und Borbeck haben besonders viele Menschen die AfD gewählt. Bürger beklagen fehlende Nachversorgung.
- Im bürgerlich geprägten Nordwesten Oberhausens erzielt die AfD zweistellige Stimmenanteile
- Dieses Protestwähler-Potenzial speist sich nicht nur aus der Landespolitik
- Kriselnde Nahversorgung, Sparkassen-Filialschließung – lokale Themen spielen eine wichtige Rolle
Montagnachmittag. Der erste Tag nach der NRW-Wahl. Der Holtener Marktplatz im prallen Frühlingssonnenschein. Das altehrwürdige Holten sieht in diesem Augenblick richtig gut aus. Doch viele Holtener sehen das ganz anders: „Bei zahlreichen Menschen in Holten hat sich in den letzten Jahren immer mehr der Eindruck verfestigt, ihr Stadtteil sei abgehängt“, sagt Walter van der Horst, Vorsitzender der Holtener Interessen- und Bürgergemeinschaft (HIB).
Dieses Lebensgefühl stellt auch die Stadtteilredaktion in vielen Gesprächen mit Menschen aus dem Oberhausener Nordwesten immer wieder fest. Auch Bewohner aus Biefang äußern sich oft ähnlich. Im bürgerlich geprägten Holten und in Biefang hat die Alternative für Deutschland (AfD) bei der NRW-Wahl am Sonntag beachtliche zweistellige Stimmergebnisse erzielt – Zahlen sind da ausgewiesen, die weit über dem NRW-Landesergebnis von 7,4 Prozent liegen.
HIB versucht gegenzusteuern
Er könne sich durchaus vorstellen, dass bei manchem Wähler die lokale Situation im Stadtteil dazu geführt habe, aus Protest der AfD die Stimmen zu geben, sagt Walter van der Horst, Chef eines traditionsreichen Bedachungsunternehmens und mit der lokalen Situation bestens vertraut. „Es bröckelt nach und nach immer mehr ab“, meint der Holtener mit Blick auf die Infrastruktur im Stadtteil. Das wohnortnahe Einkaufen etwa sei durch Geschäftsschließungen immer mehr in Gefahr geraten. Es gebe zunehmend Leerstände und zuletzt habe die geplante Schließung der Sparkassenfiliale am Marktplatz für jede Menge Unverständnis, Kopfschütteln und massive Kritik unter den Holtenern gesorgt.
Walter van der Horst: „Es gibt sicherlich einzelne Politiker, die sich für Holten einsetzen.“ Aber im Großen und Ganzen bleibe bei einer beträchtlichen Zahl von Bewohnern der frustrierende Eindruck zurück: Bei uns im Stadtteil geht’s abwärts.
Die HIB versucht gegenzusteuern. So hatte sie kurz vor Ostern zur Bürgerversammlung eingeladen, um der Sparkassenspitze den geballten Stadtteilprotest vor Augen zu führen. Oft geht es auch um Kleinigkeiten, die das lokale Lebensgefühl bestimmen. In diesem Frühjahr machte die HIB zum Beispiel darauf aufmerksam, dass die krummen Pfähle auf dem Marktplatz dringend gerichtet werden müssen. Nach dem Hinweis der HIB hat die Stadtverwaltung nun reagiert und die Pfosten begradigt.
Protestwähler wollen Lektion erteilen
„Die alten Leute mit Rollator fühlen sich abgehängt. Und die jungen Leute ziehen weg“, meint eine Geschäftsfrau zur Situation in Holten-Mitte und zu den fehlenden Einkaufsmöglichkeiten. Sie könne sich durchaus vorstellen, dass diese lokale Stimmung auch für Protestwähler sorgt, die den etablierten Parteien mit einem Votum für die AfD eine Lektion erteilen wollen: „Schauen Sie sich um! Hier gibt’s doch bald nichts mehr.“
Die Frühlingssonne über dem Marktplatz will so gar nicht passen zu diesen bitteren Worten. Holten am ersten Tag nach dem NRW-Votum. Schon im September wird wieder gewählt.
Borbeck: Stadtteil am Stadtrand
Ein verlorenes Fleckchen Oberhausen – so könnte man denken, wenn man durch Borbeck fährt. Ist es hier einen Tag nach der Wahl genauso sonnig wie anderswo in Oberhausen, scheinen doch viele Menschen mit der Politik besonders unzufrieden zu sein. Bekam die AfD von den Borbeckern doch Stimmen im zweistelligen Prozentbereich. Warum wählen so viele Bewohner eine Partei, die auch Mitglieder der rechten Szene anzieht und dadurch teilweise in Verruf geraten ist?
Wir wollten Borbecker fragen. Aber wir fanden keine Gesprächspartner. Nicht einmal im Zentrum dieses Stadtteils.
Niemand will reden
Eine Frau sagt: „Ich bin aus Bottrop.“ Ein älterer Herr mit Rollator sagt: „Mir geht es nicht so gut.“ Es falle ihm deshalb schwer nachzudenken. Eine weitere Frau ruft: „Ich bin nicht Borbeck, ich habe hier nur für jemanden eingekauft.“
Erst ein junger Mann mit Rollerskate, der auf den Bus wartet, erklärt: „Hier wohnen viele Alteingesessene.“ Er schätze, dass den Leuten vor allem die Flüchtlingspolitik nicht gefallen habe und dass sie deshalb die AfD gewählt hätten.
Dabei gibt es in Borbeck weder einen riesigen Wohnpark Bebelstraße mit vielen Flüchtlingen noch Flüchtlingsunterkünfte wie in Lirich.
Stadtteil Lirich „stirbt aus“
Die Farbe an den heruntergelassenen Rollläden des Hauses Elspas ist genauso abgeblättert wie die an dem übergroßen König-Pilsener-Logo. Hier ist schon lange kein Bier mehr über die Theke geschwappt, geschweige denn gute Laune auf die Straße.
Die Wilmsstraße in Lirich war früher eine belebte Einkaufsstraße. Heute wehren sich ein paar Läden gegen den Leerstand. Ein Friseur, ein Eis-Café, eine Versicherung, ein Gardinenladen mit 24-Stunden-Service. „Lirich stirbt aus“, sagt Bettina Reichert. Die 54-Jährige hatte früher selbst ein Blumengeschäft. Mittlerweile macht sie nur noch Auftragsarbeiten. „Gerade für ältere Menschen gibt es keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe.“
Warum gerade in Lirich so viele Menschen die rechtspopulistische Partei AfD gewählt haben, versteht die Oberhausenerin aber nicht.
Liricher: Es gibt zu wenig Stellen
Paul Kusenberg kann sich das auch nicht erklären. Der 73-Jährige hat die CDU gewählt. Probleme vor Ort gebe es wie in vielen Ruhrgebietsstädten viele, aber vor allem eins stört ihn: „Die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Es gibt zu wenig Stellen. Die Jugend muss weg von der Straße. Das ist das A und O. Bei uns wurde das früher ganz klar geregelt.“
Ein paar Häuser weiter sitzen „Bei Bärbel“ Männer an der Theke, knobeln und trinken Bier. Es ist gerade 12 Uhr durch.
An einer Laterne hängt ein AfD-Wahlplakat. „Ohne Bildung ist alles nichts.“ Die Worte Werte und Moral sind falsch geschrieben. Der Pappkarton ist weit oben befestigt, damit ihn keiner beschmiert. Darunter wirbt die Piraten-Partei mit „Protest wählen! Keine Nazis!“ Welche Botschaft in Lirich besser ankam, weiß seit Sonntagabend jeder.
Bürgerfrust in Osterfeld
Eine treue Leserin ruft seit vielen Monaten immer wieder in der Stadtteilredaktion an. „Ich fühle mich einfach unsicher auf den Straßen in Osterfeld“, berichtet die Frau. Das gelte besonders für die dunkle Jahreszeit und die Abendstunden. Die Frau verweist dabei auch auf steigende Migranten- bzw. Flüchtlingszahlen – obwohl sie selbst einen Migrationshintergrund hat.
Unsere Hinweise auf den Polizeibericht, der ausweise, dass Osterfeld keineswegs besonders unsicher sei, helfen nicht weiter. Die Leserin verweist auch auf leerstehende Geschäftslokale und renovierungsbedürftige Hausfassaden – sie wohne schon seit vielen Jahrzehnten in Osterfeld, mit dem Stadtteil gehe es immer weiter abwärts, ist sie sich ganz sicher.
Frust beim Ideenworkshop
Die Osterfelderin besuchte auch einen der ersten Ideenworkshops im Zuge des Stadterneuerungsprogramms „Soziale Stadt“. Doch dort fühlte sie sich mit ihrem Protest nicht ernst genommen: „Da laufen jede Menge Planer aus irgendwelchen Planungsbüros herum, aber die verdienen sich mit so einem Programm doch nur eine goldene Nase. Osterfeld hilft das nicht weiter“, ist sich die Leserin sicher.
Über 20 Millionen Euro werden im Zuge der „Sozialen Stadt“ nach Osterfeld fließen; es gibt ein Hof- und Fassadenprogramm; jeder Interessent kann eine individuelle Projektidee beim Verfügungsfonds anmelden und sich um Mittel aus diesem Topf bewerben; der neue Rewe-Supermarkt eröffnet im Sommer an der Bottroper Straße – unsere Leserin überzeugt das alles nicht.
Erstaunen bei den Bürgern in Vennepoth
Eine hohe zweistellige Prozentzahl konnte die AfD auch im südöstlichen Stimmbezirk Vennepoth an der Grenze zu Essen verbuchen. Erstaunen herrscht bei Anwohnern, wenn sie darauf angesprochen werden. Peter Willershausen (29) hat eine Erklärung parat: „Einige Leute möchten den großen Parteien eins auswischen, Das Wahlprogramm der AfD kennen viele nicht.“
Ruth Derksen (87) gibt der SPD eine Mitschuld: „Die SPD ließ in den letzten Jahren viel zu wünschen übrig und hat manches versäumt.“ Markus Lindken (46) vom Hausmannsfeld hält einige Menschen für überfordert, wenn es um die Wahlentscheidung geht: „Die Leute hinterfragen die Schlagwörter nicht.“ Sven Schmal (41) hat zwar auch nicht AfD gewählt, kann sich aber einen Reim aufs Ergebnis machen: „CDU, SPD, das ist ja immer das Gleiche“, sagt er. Für Malika Almojahedi (44) liegt es an der aus ihrer Sicht zu niedrigen Wahlbeteiligung, dass die AfD so stark abgeschnitten hat.
>>> AfD-Wahlergebnisse in Oberhausen
Einige AfD-Wahlergebnisse im Überblick (Zweitstimmen):
Lirich-Nord: 16,1 Prozent Borbeck: 14,7 Prozent
Lirich-Süd: 14,5 Prozent
Osterfeld-Mitte: 13,6 Prozent Klosterhardt-Nord: 13,6 Prozent
Alstaden-Nord: 13,0 Prozent
Holten: 11,4 Prozent
Im gesamten Land NRW erzielte die AfD 7,4 Prozent der Zweitstimmen.