Oberhausen. Eine Prostituierte an der Flaßhofstraße in Oberhausen versichert, sie mache ihren Job freiwillig. Sie ärgert sich über die Vorurteile und Doppelmoral.

  • Ihre Schicht an der Flaßhofstraße beginnt zwischen 11 und 12 und endet gegen 19 Uhr
  • Die junge Fraue wünscht sich, offen über ihre Arbeit sprechen zu können
  • Die 33-Jährige hat fast nur Stammkunden und sieht sich als selbstbestimmt

„Ich bin Michelle.“ Die junge Frau, außerordentlich hübsch, bekleidet mit T-Shirt, Jeans und Turnschuhen, begrüßt die Gäste im Aufenthaltsraum ihres Arbeitsplatzes. „Hier sitzen wir zusammen, essen gemeinsam, feiern Geburtstage und kochen ab und an“, sagt sie über ihre Kolleginnen und sich.

Michelles „Schicht“ fängt täglich zwischen 11 und 12 Uhr an. Sie arbeitet dann bis 18 oder 19 Uhr. Michelle ist Prostituierte und arbeitet an der Flaßhofstraße.

Kampf gegen die Doppelmoral der Gesellschaft

Michelle heißt im wirklichen Leben anders, sie will sich im Gegensatz zu ihrer Kollegin Lea nicht fotografieren lassen, will gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber Nachbarn und Bekannten anonym bleiben – und will doch gegen Vorurteile und Klischees gegenüber ihrem Rotlichtberuf angehen.

Denn wie viele ihrer Kolleginnen kämpft sie gegen Pauschalisierungen und die Doppelmoral der Gesellschaft an: Obwohl erstaunlich viele Männer Sexdienste einkaufen, wird ihre Arbeit als unmoralisch verurteilt; man glaubt, dass alle Prostituierten unter Zwang stünden und einen aggressiven Zuhälter hätten.

Deshalb erzählt uns Michelle von ihrem Leben. Die 33-Jährige versichert, dass sie nicht zu den jungen Frauen gehört, die verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Auf sie warte zu Hause auch kein prügelnder Zuhälter, sondern ihr Partner. Und ihr großer Wunsch wäre es, offen von ihrem Beruf sprechen zu können. „Was ich mache, wissen nur meine engsten Freunde“, gibt sie an. Einfach mal zu sagen: „Ich arbeite im Puff“, sei nicht drin. Da würde sie sich rechtfertigen müssen – oder Menschen würden gar den Kontakt zu ihr abbrechen.

Auf Umwegen zur Prostitution

Wenn sie also nach ihrem Beruf gefragt wird, sagt sie, was sie bis vor acht Jahren gemacht hat. Michelle ist gelernte Einzelhandelskauffrau und kam auf Umwegen zu ihrer ungewöhnlichen Profession. „Ich hatte damals eine Freundin, die in dem Milieu gearbeitet hat“, erzählt sie. Sie sei da immer tolerant und offen gewesen. „Ich fand die Arbeit der Freundin interessant.“ Es sei ein Reiz, der dahinter stecke. Das Finanzielle spiele eine Rolle. Und sie sei frei in dem, was sie tue.

Mitten im Gespräch fällt ihr ein: „Ich habe Ihnen noch gar nicht mein Zimmer gezeigt.“ Sie springt auf und führt zur Nummer Sieben. Das ist es. Ein aufgeräumter Raum, schummeriges Licht. Ein Bett mit kleinen Lämpchen am Rand. Schwarze Fetisch-Sachen an einem Kleiderständer. Knallrote Stiefel mit extrem hohen Absätzen auf dem Boden.

Die Zimmermiete kostet 130 Euro

„Wenn ich schlechte Laune habe, komme ich erst gar nicht“, sagt Michelle. Dann spart sie sich die 130 Euro, die Zimmermiete für einen Tag. Mit schlechter Laune erziele man keine Einnahmen. „Eine Frau, die das gerne macht, verdient auch Geld“, ist Michelle überzeugt. Frauen, die unfreiwillig arbeiteten, verdienten schlecht. „Ich kann mich zu 100 Prozent mit meinem Job identifizieren, weil ich nur das mache, was ich will“, sagt sie. Und dass sie in den acht Jahren noch kein einziges schlechtes Erlebnis mit einem Mann gehabt habe. Sie begegne den Männern auf Augenhöhe, glaubt sie.

Die 33-Jährige hat fast nur Stammkunden. Dass Männer im Bordell manchmal einfach nur reden wollten, komme sogar vor und sei nicht nur ein Klischee. Einmal sei ein Mann zu ihr gekommen, der sich von seiner Frau habe trennen wollen. „Zwei Stunden lang haben wir uns unterhalten. Ich habe ihm Tipps gegeben, was er tun kann, um seine Ehe zu retten.“ Nicht ohne Stolz berichtet sie, dass ihre Ratschläge Wirkung zeigten. Von ihrem Freier bekam sie als Dankeschön Pralinen und einen dicken Blumenstrauß.

Michelle ist selbstständig. Das heißt, sie kann entscheiden, ob sie zur Flaßhofstraße geht und dort ein Zimmer für ihren Job mietet. Auch diese Freiheit gefällt der Frau, die gerne liest und viel Sport treibt, läuft und ins Fitnessstudio geht. Sie will weg von Prostituierten-Klischees, deutet mit den Händen die Umfänge von „solchen Titten“ an und verwehrt sich gegen die Vorstellung, dass die Frauen immer geschminkt sein müssten, als seien sie in einen Farbkasten gefallen.

Über sich sagt sie: „Ich bin offener geworden, seit ich hier arbeite. Denn meine Arbeit ist ehrlich – und die Männer sagen ehrlich, was sie von mir wollen.“

Menschenhandel: 78 Verfahren in NRW

Die Prostituierte Michelle steht auf der einen Seite. Im Dunkeln bleiben so gut wie immer die Schicksale der Mädchen und Frauen, die man beim Landeskriminalamt unter dem Begriff „Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“ zusammenfasst. In ganz NRW kam es im vergangenen Jahr zu 78 Verfahren mit 90 Opfern. Ein Fall wurde in Oberhausen bekannt. Allerdings wurde hier das Verfahren eingestellt. „Eine Tat konnte nicht nachgewiesen werden“, sagt Staatsanwalt Detlef Nowotsch. Wo sich das angebliche Geschehen abspielte, blieb unklar. Neben den Frauen an der Flaßhof-straße arbeiten weit über 100 Frauen in Wohnungen in der Stadt als Prostituierte, deren Angebote im Internet zu finden sind.

In dem Bericht des LKA wird das Beispiel einer 28-jährigen Frau aus Ungarn geschildert, der in Duisburg die Flucht aus einer Wohnung gelang. Die Frau sprang aus einem Fenster im ersten Stock und brach sich ein Bein. Der Polizei sagte sie, gegen ihren Willen in der Wohnung festgehalten und zur Prostitution gezwungen worden zu sein.

Insgesamt stieg die Zahl der gemeldeten Opfer im Jahr 2015 mit 90 im Vergleich zu 82 ein Jahr zuvor an. Das Polizeipräsidium Köln meldete 2015 mit 14 (2014: 18) Personen erneut die meisten Opfer. In Duisburg – zum Vergleich – wurden vier registriert. „Das liegt daran, dass Köln einfach die größte Stadt ist“, erklärt LKA-Sprecher Frank Scheulen. Dass so wenig Opfer von sexueller Ausbeutung erfasst würden, habe den Grund, dass die Polizei in diesem Bereich auf Hinweise der Frauen angewiesen sei. Aber die schwiegen meist.

Es mag viele Gründe geben, warum die Frauen sich nicht trauen, zur Polizei zu gehen – sofern ihnen das überhaupt möglich ist. Deprimierend dürften für Betroffene auf jeden Fall Gerichtsurteile sein. So schreibt die Zeitung „Die Welt“ von einer ganzen Reihe von Menschenhändlern und Zuhältern in Deutschland, die mit Bewährungsstrafen davon kamen, darunter eine Zuhälterin, die ein 14-jähriges Mädchen dazu gezwungen hatte, sich in einem Eroscenter zu prostituieren. Die minderjährige Prostituierte fiel bei einer Razzia auf.