Oberhausen. Warum in Holten immer wieder Weltkriegs-Geschosse zu entschärfen sind: Die Ruhrchemie war eine von neun Anlagen zur Produktion von Benzin aus Koks.
- Auf die heutigen Holtener Großbaustellen zielten im Weltkrieg etliche Luftangriffe.
- Der Grund: die Ruhrchemie produzierte in Holten „Kogasin“: Benzin aus Koks.
- Die „zivilen“ Schäden der Bombenabwürfe waren so groß wie die an der Industrie.
Während der einen Nacht zum 19. August 1944 setzte die Royal Air Force über 250 Flugzeuge ein, um 1111 Sprengbomben über Holten abzuwerfen. „Darunter 202 Blindgänger“, protokolliert das von der Polizei geführte Kriegstagebuch. Es nennt weitere 151 Minenbomben, „darunter 1 Zerscheller“. Und es unterscheidet die Verluste an Menschenleben in „20 Gefallene“ und „38 Tote“ sowie 14 Verwundete.
Seit dem 16. Mai 1940, als das Kriegstagebuch meldet – „Ruhrchemie lebhaftes Flakfeuer. Fallschirme gehen im Dunkelschlag herunter“ – waren die zwölf Jahre zuvor erbauten Chemie-Anlagen in Holten ein Ziel alliierter Bomberpiloten.
Aus einem besonderen Grund: Die Ruhrchemie war eine der neun Anlagen in Deutschland, die großtechnisch die Fischer-Tropsch-Synthese anwandten: Es ist das 1925 am Kaiser-Wilhelm-Institut in Mülheim entwickelte Verfahren zur Kohleverflüssigung. Aus Koks wurde Gas und Benzin – zusammengefasst im neuen Begriff „Kogasin“.
"Eindrucksvoll schlaglichtartig"
„Dieser Treibstoff hatte eine besondere Bedeutung“, weiß Dr. Magnus Dellwig, der Leiter des Stadtarchivs. Im „Gedächtnis der Stadt“ an der Liricher Eschenstraße lässt sich das polizeiliche Kriegstagebuch in seiner digitalisierten Form auch nach Suchbegriffen auswerten.
Die Protokolle machen trotz betont nüchternen Tons deutlich, wie dramatisch sich der Bombenkrieg intensivierte. Am 12. Dezember 1941 berichtet das Kriegstagebuch noch ausführlich über einen „einzelnen feindlichen Flieger, der unbemerkt im Schutze tiefhängender Wolken Oberhausen erreicht hatte“. Seine vier Sprengbomben trafen nur Gleise. Nach drei Minuten wurde dieser Bomber von der Flak abgeschossen. „Die Besatzung in Stärke von fünf Mann fand hierbei den Tod“, so der Bericht. „Produktionsausfall ist nicht eingetreten.“
Die materiellen Schäden zu beziffern, war im Kriegstagebuch nicht üblich. Magnus Dellwig fand aber auch Akten, die Summen nennen: Ein Großangriff am 13. Mai 1943 betraf das gesamte Stadtgebiet von Krebber und Babcock über die GHH bis zur Ruhrchemie. Die Holtener Anlage meldete von allen Werken mit 2,25 Mio Reichsmark den höchsten Schaden. Alle übrigen Werke hatten Schäden von je unter 100.000 RM. „Eindrucksvoll schlaglichtartig“, wie der Archivleiter sagt, fand Dellwig im Stadtarchiv Belege, die in der Gesamtsumme der Schäden – allein dieses Tages – die Verluste für die Wohnungen und Geschäfte „ziviler Einzelpersonen“ ebenso hoch ansetzen wie für die Industrie: bei über 2,4 Mio RM.
Zuletzt beschoss Wehrmacht Holten
„Einen 100-prozentigen Produktionsausfall“ meldet das Kriegstagebuch nach dem nur halbstündigen Luftangriff in der Nacht zum 17. Juni 1944. Die Ruhrchemie trafen „insgesamt 37 Minenbomben, 466 Sprengbomben, darunter 122 Blindgänger, 303 Splitterbomben und 25 Phosphorbrandbomben“. 30 Menschen starben in dieser halben Stunde von 1.17 bis 1.45 Uhr.
Eine Festschrift der Pfarrkirche St. Johann beschreibt die Einnahme Holtens durch US-Bodentruppen: „Am Karfreitag rückte schwere amerikanische Artillerie mit fünf Geschützpanzern nach und begann mit den in Lirich und am Schlackenberg sich noch haltenden deutschen Einheiten ein Artillerieduell.“ Der Festschrift-Autor: „Es war nicht mehr viel zu zerstören.“ Die vom letzten Reichswehr-Aufgebot abgeschossenen Granaten trafen Holten in der Nacht zum 7. April 1945.