Oberhausen. . Fünfter Teil unserer Geschichtsserie: Wirtschaft und Bevölkerung waren die Fundamente der Großstadt Oberhausen, Eisenbahn und Eisenindustrie der Motoren der Stadtentwicklung.
Zeigte das Bevölkerungswachstum in Oberhausen heute ebenso rasant nach oben wie im ersten halben Jahrhundert der Stadtgeschichte, dann gehörte unsere Stadt heute zu den am schnellsten wachsenden der Welt! Denn von der Gemeindegründung 1862 bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl in nur 50 Jahren um fast das 20-fache an, von 5500 auf 103.000.
Was aber waren die Triebfedern für das schnelle Wachstum? Und welche Herausforderungen ergaben sich daraus? Das Chicago des preußischen Westens wurde Oberhausen im 19. Jahrhundert von Fernreisenden oft genannt, aus einer Mischung aus Faszination und Unverständnis. Denn was man hier sehen konnte, unterschied sich von der typischen deutschen Stadt aus vorindustrieller Zeit radikal: Nicht Kirche und Markt waren Mittelpunkte und Treiber, sondern Eisenbahn und Industrie. Wie in Chicago wurde die Eisenbahn, genauer ein imposanter Knotenpunkt ihrer Linien, zum wahren Städtegründer.
Von gleicher Bedeutung, und ursächlich dafür, dass die Eisenbahn überhaupt in die öde Lipperheide kam, war die Eisenindustrie der JHH, das erste Großunternehmen im Revier. Denn 3000 Beschäftigte in Sterkrade und an der Essener Straße schufen eine Nachfrage nach Gütertransporten, auf die die Köln-Mindener Eisenbahn mit ihrer Tassenentscheidung und dem Bau des Bahnhofs reagierte.
Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum
Von nun an ging es sehr schnell, es folgten viele neue Linien: nach Essen, Duisburg, Ruhrort, 1856 sogar nach Arnheim; Oberhausen war zu einem Knoten im europäischen Eisenbahnnetz aufgestiegen. Um den Bahnhof siedelten sich Fabriken und die Zeche Concordia an. Bergbau, Chemie-, Metall- und Konsumgüterfabriken gaben mehreren tausend Menschen Arbeit.
Um zu erklären, warum Oberhausen sogar im Ruhrgebiet zu den am schnellsten wachsenden Städten zählte, lenken wir den Blick auf die Triebfeder der Industrialisierung selbst: Rund alle 50 Jahre bricht sich eine neue große Erfindung Bahn zur Anwendung in großen Mengen. Den ersten dieser sogenannten Kondratieff-Zyklen trug seit 1780 die Textilindustrie, den zweiten seit 1840 die Eisen- und Stahlindustrie. Massenhafte Nachfrage verschafften ihr der Bau von Maschinen, Schiffen, Konsumwaren, aber vor allem auch der Eisenbahn. Durch die räumliche Konzentration von Montanindustrie, Eisenverarbeitung und der Eisenbahn-Unternehmen waren die schnellsten Wachstumsmärkte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Oberhausen vereint.
Und: Seit 1890 konzentrierte sich die Marktmacht der Montanindustrie weltweit in großen Konzernen. Die GHH bildete schon mit Abteufung der Zeche Oberhausen 1855 den ersten, vertikal gegliederten Konzern der deutschen Montanindustrie: Kohle, Eisenhütten, Stahlwerke und die Weiterverarbeitung zu Maschinen an einem Standort. Das senkte die Kosten und förderte darüber Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Die Beschäftigten in der Wirtschaft stiegen von 2000 im Jahr 1862 auf 35 000 in 1918.
53.500 Wohnungen bis zum II. Weltkrieg
Existenzielle Voraussetzung für die Bildung der Großstadt Oberhausen war der massenhafte Bau von Wohnungen. Auch wenn die Wohnverhältnisse im Vergleich zu heute ärmlich waren – oft hatten Familien mit drei bis zehn Kindern nur zwei bis vier Räume – bleibt der Wohnungsbau beeindruckend. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren 53.500 Wohnungen in 18.500 Gebäuden entstanden. Drei Entwicklungen haben dies ermöglicht:
1. Das Bergrevier Oberhausen (mit Sterkrade und Osterfeld) wies schon 1900 die höchste Quote an Werkwohnungen im Revier auf: ca. 32 %. Dies dokumentiert, wie konsequent die GHH über betriebliche Sozialpolitik die Sicherung einer Stammbelegschaft betrieb.
2. Viele Wohnungsbauunternehmer investierten umfassend in den mehrgeschossigen Mietwohnungsbau. Das enorme Wachstum der Bevölkerung ließ Wohnungsbedarf und Mieten stetig steigen. Beides wiederum machte es für Investitionen in der aufstrebenden Stadt leicht, Hypotheken zu bekommen.
3. Die Industriestadt wuchs nicht um einen einzigen alten Ortskern, sondern großflächig in einem neuen Straßennetz um mehrere Kerne: Marktstraße, Buschhausener Straße, Knappenviertel, Alstaden, Werkssiedlungen in Sterkrade und Osterfeld. Dies ermöglichte es, umfangreiche Wohnungsbauten an vielen Orten in der Stadt gleichzeitig zu errichten.
Infrastruktur für die Großstadt wächst in wenigen Jahren
War die Industrie allein Motor der Stadt? Keineswegs! Die Wissenschaften der Stadtplanung und der Städtetechnik kannten schon 1870 das „Gesetz vom doppelten Stellenwert“. Es besagt: Für jeden in der Grundstoff-Industrie geschaffenen Arbeitsplatz wird ein weiterer in den übrigen Sektoren geschaffen. In Handel und Handwerk, aber auch in den vielen kleinen Zulieferbetrieben von Drahtseilereien bis Werkzeugmaschinen-Herstellern. Zudem explodierten die Beschäftigtenzahlen im öffentlichen Dienst: Die neue Stadt benötigte Verwaltungsbeamte, Polizisten, Lehrer.
Und wie wurde die Stadt Oberhausen mit dem scheinbar unstillbaren Bedarf an Arbeitskräften für die Industrie fertig? Die Arbeiten von Rat und Verwaltung erscheinen aus der Rückschau wie die Leistungsbilanz von Spitzenmanagern. Knappe Schlagworte müssen hier genügen: 1862 Gründung der Bürgermeisterei, 1865 Gründung der Sparkasse und Aufstellung des Straßenplans, 1873 Kommunalisierung des höheren Schulwesens und Bau des Rathauses, 1874 Stadtrecht, fortlaufend Bau neuer Volksschulen und Beschäftigung von bis zu 400 Lehrern als größter kommunaler Ausgabe im Kaiserreich, 1885 neuer Bahnhof, 1893 Badeanstalt, 1896 erste kommunale Straßenbahn Deutschlands, 1896 Kauf des Kaisergartens, 1897 Kommunalisierung des Gaswerkes Grillo, 1900 Elektrizitätswerk, ebenfalls seit 1900 fortlaufend Bau von Kanalisation, Straßendecken, Gas-, Strom- und Wasserleitungen, 1899 Realgymnasium, 1915 dann staatliches Realgymnasium und Oberrealschule, 1901 Anstellung des königlichen Musikdirektors Karl Steinhauer aus Düsseldorf, 1920 Gründung des städtischen Theaters, 1909, 1910 und 1915 Eingemeindungen.
Plötzlich spüren wir wieder die Dynamik, die Ähnlichkeit der Verhältnisse in Oberhausen um das Jahr 1900 und an den Stadträndern von Shanghai und Sao Paolo 2015.