Mülheim. Zum vierten Mal führte der Ringlokschuppen die Fatzer-Tage auf. Brechts unvollendetes Werkinterpretieren junge Theatermacher in ihren Inszenierungen gesellschaftskritisch. Wir haben unseren Kritiker vorbeigeschickt.
Schleier, Masken, düstere Prophezeiungen – Theaterregisseur Johannes Wenzel mischt aus diesen Zutaten für die diesjährigen Fatzer-Tage im Ringlokschuppen ein gesellschaftskritisches Kriegsgericht. Und fügt natürlich kräftig Fatzer bei, Brechts unvollendetes Werk, „für Kenner eine Art Bibel“, kommentiert Ringlokschuppen-Dramaturg Matthias Frense.
Fragment eine Art Bibel
„Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ enthält vieles ansatzweise, was Brecht in späteren Stücken ausgeführt hat. Das haben die Fatzer-Tage der vergangenen Jahre mit Inszenierungen von Rene Pollesch und freien Theatergruppen wie Andcompany schon gezeigt. Doch wie es sich mit „Bibeln“ verhält, bietet die frühe Schrift jede Menge Spielraum für Interpretation, zumal sie selbst noch mit gut 500 Seiten ein Fragment geblieben ist.
Der Krieg als Erfahrung steht – hundert Jahre nach dem Beginn des ersten Weltkriegs – im Zentrum der Betrachtungen dieser Fatzer-Tage. Wenzels Inszenierung etwa verlegt Fatzer in einen Tempel, macht daraus „eine Zeremonie“ und verbindet die losen Fäden des Fragments zu der Frage, welchen Typ Mensch der augenscheinlich harte gesellschaftliche Schnitt des Krieges hervorgebracht hat. Wer überlebt und zu welchem Preis?
Junge Inszenierungen der Hochschulen
Bereits zum vierten Mal führte der Ringlokschuppen die Fatzer-Tage auf.
Verschiedene Theater-Inszenierungen, Performances und eine Installation, u.a. der Ernst-Busch-Hochschule Berlin, Theaterwissenschaft Gießen und Szenische Forschung der Ruhr-Uni Bochum wurden von einem Symposium zum Thema „Krieg“ begleitet.
Fatzers Story in Kürze: Der Soldat und drei Kameraden desertieren im ersten Weltkrieg und fliehen nach Mülheim. Dort allerdings scheitern ihre Pläne, unterzutauchen und neu anzufangen an dem Konflikt zwischen dem Individualisten Fatzer und der Gruppe, die auseinander bricht. Nicht nur Fatzer, auch die Kameraden kommen am Ende ums Leben.
"Fatzer-Zeremonie" mit Versatzstücken des Brecht’schen Theaters
Vier Priesterinnen erzählen die Geschichte dieses vermeintlichen Neubeginns in einem Ritual. Sie lesen in Perlen, werfen Stöckchen, bekreuzigen das Publikum, „damit ihr entscheiden sollt durch das Sprechen der Wörter und das Anhören der Chöre was eigentlich los war, denn wir waren uneinig.“ Dabei spielt die „Fatzer-Zeremonie“ mit Versatzstücken des späteren Brecht’schen Theaters: der Chor, die Distanz von Schauspieler und Rolle, die Ansprache des Publikums. Die Zusammenhänge zwischen Krieg, Lust und Fressen scheinen am Ende allerdings rätselhaft zu bleiben. Auch das Publikum reagiert auf den eigentlich interessanten Versuch, den Bruchstücken einen Zusammenhalt zu geben, eher verhalten.
Lässt sich Brechts Fragment sinnvoll inszenieren? Für Dramaturg Matthias Frense steht das außer Frage. Für ihn ist „Fatzer angesichts der vielen Bürgerkriege und Flüchtlingsproblematik hochaktuell und in der Bedeutung vergleichbar mit Marx ‘Kapital’“.
National wie international sei das Material „hot stuff“ – also „brandheiß“ – wie der Dramaturg weiter verrät. Im kommenden Jahr plant der Ringlokschuppen mit einer Fatzer-Inszenierung aus Japan und Polen.