Mülheim. Zur Kommunalwahl treten zahlreiche Bürgerbündnisse an. Beim Bürgerbarometer gaben 59 Prozent der Befragten an, dass sie diese Vielzahl von Bürgerbündnissen begrüßen. Die etablierten Parteien müssten sich demnach große Sorgen machen.
Zusammen hätten sie die Mehrheit: Fast 60 Prozent der beim Bürgerbarometer Befragten begrüßen, dass bei der Kommunalwahl so viele Bürgerbündnisse wie noch nie antreten. Warum genießen diese Bündnisse in Mülheim, das noch bis 1994 mit absoluter SPD-Mehrheit regiert wurde und bis zum Einzug der Grünen (1984) nur drei Ratsfraktionen, nämlich die von SPD, CDU und FDP kannte, einen so großen Zuspruch? Ist die Zunahme der Bürgerbündnisse ein Ausdruck demokratischer Reife oder demokratischer Instabilität, hervorgerufen durch das politische Versagen einstmals großen Parteien.
Dass viele Mülheimer mit Bürgerbündnissen jenseits der etablierten Parteien sympathisieren und vor allem die bereits politisch erfahrenen mittleren Jahrgänge zu ihnen tendieren, überrascht den pensionierten Pfarrer Helmut Kämpgen nicht. Er hat im Bündnis für Bildung für den Erhalt der Max-Kölges-Schule an der Bruchstraße gekämpft und dabei seine eignen Erfahrungen mit Parteien gemacht. „Die haben zugemacht und eine Stellungnahme abgegeben. Aber ein richtiges Gespräch hat es nie gegeben. Dabei sollte Parteien Bürger abholen und nicht in eine Ecke drängen“, sagt Kämpgen mit Blick auf CDU, FDP, Grüne und MBI, die gegen den Erhalt der Schule standen und ihre Haltung auch nach dem vom Bündnis gewonnenen Bürgerentscheid nicht änderten.
Viele Bürger fühlen sich von etablierten Parteien nicht verstanden
Auch von der SPD, die sich für den Bürgerentscheid engagierte, anschließend im Rat aber keine Partei für die Schule ergriffen habe, „weil es ihr wichtiger war, zusammen mit der CDU einen Haushalt zu verabschieden“, ist Kämpgen enttäuscht. „Solche Enttäuschungen führen bei vielen Bürgern dazu, dass sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr verstanden und vertreten fühlen und ihnen politisch nichts mehr zutrauen.“ Dabei, so glaubt der Vorsitzende des Bürgervereins Eppinghofen, „könnten die Parteien von den Bürgerbündnisse profitieren, wenn sie auf sie zu gehen und sie einbinden, statt die Konfrontation mit ihnen zu suchen.“
„Schon damals hat die Betonfraktion viele Bürgerinitiativen hervorgerufen“, erinnert sich der ehemalige CDU-Partei- und Fraktionschef, Klaus Möltgen an die Kommunalpolitik unter der absoluten SPD-Mehrheit. 1994 trat er bei der Kommunalwahl mit dem Wahlbündnis Unabhängiger Bürger (WUB) an und verpasste mit 2,3 Prozent der Stimmen den Einzug in den Rat, weil es damals noch eine Fünf-Prozent-Hürde gab. Heute hielte er eine 2,5-Prozent-Hürde für sinnvoll, um leichter zu politischen Mehrheiten zu kommen.
Bürger wollen in Entscheidungen einbezogen werden
„Politik heißt auch Führung. Aber die Parteien können ihre Politik oft nicht gut erklären. Und das schafft Missverständnisse und Misstrauen, zumal wir es mit selbstbewussten und kritischen Bürgern zu tun haben“, betont Möltgen. Öffentliche Fraktionssitzungen und eine verständlichere Sprache in Ratsvorlagen könnten aus seiner Sicht die Nachvollziehbarkeit von Politik befördern und Parteienverdrossenheit entgegenwirken. „Parteien müssen die unterschiedlichen Rollen anerkennen, die Parteien, Bürgerinitiativen und Presse in der Kommunalpolitik spielen. Und sie müssen einsehen, dass sie die Weisheit nicht immer mit Löffeln gefressen haben“, sagt der ehemalige Kommunalpolitiker.
„Bürger wollen vor Entscheidungen einbezogen und nicht anschließend über Entscheidungen informiert werden“, erklärt Lothar Reinhard von den Mülheimer Bürgerinitiativen (MBI), warum die Bürgerbündnisse im „Trend der Zeit liegen, weil Bürger oft das Gefühl haben, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden und ihnen etwas aufgepfropft wird.“ Er selbst, der sich einst von den Grünen abwandte, um mit den MBI in den Rat einzuziehen und Ruhrbania zu stoppen, fürchtet allerdings eine weitere Zersplitterung, die im nächsten Rat zu Weimarer Verhältnissen führen könnte. Gerade in der schwierigen Finanzpolitik fordert er weniger Verschwendung von Steuergeldern und mehr Offenheit in einem Dialog mit den Bürgern, der auf Heilige Kühe und Denkverbote verzichtet, um neues Vertrauen zu gewinnen.
Bürgernahe Politik ist gefragt
„Die Politik wird heute viel kritischer beäugt als früher. Und Bürger sind deshalb auch eher bereit, ihren Protest zu formulieren und dabei auch organisatorisch neue und eigene Wege zu gehen“, glaubt der Ortsvereinsvorsitzende der Heißener SPD, Daniel Mühlenfeld. Von den Stadtteilrundgängen seines Ortsvereins weiß er, dass sich Bürger auch von etablierten Parteien ansprechen und für eine Mitarbeit gewinnen lassen, wenn sie das Gefühl haben, „dass sie sich um ihre Probleme kümmern und ihre Politik auch plausibel erklären können.“
Britta Stalleicken hat sich als Sprecherin der Bürgerinitiative „Frische Luft für Mülheim“ für den Erhalt einer als Kaltluftschneise erforderlichen Freifläche in Holthausen eingesetzt. Jetzt kandidiert die Parteilose auf der Liste der Grünen für die Bezirksvertretung Rechtsruhr-Süd. „Das fühlt sich für mich gut an, weil man das Rad nicht immer wieder neu erfinden kann und in der Bezirksvertretung nah an den Bürger dran ist, um ihre Anliegen aufzunehmen und etwas für sie bewegen kann“, erklärt Stalleicken, warum sie sich mit ihrem als Bürgeraktivistin gesammelten Wissen lieber in die vorhandenen Strukturen der Grünen einbringt, „um sich dort auch gegenseitig auszutauschen“ statt in einem Bürgerbündnis neue Strukturen zu schaffen. Politik müsse sich, so meint sie, mehr am Allgemeinwohl und an Sachargumenten orientieren, um bürgernah zu sein.