Essen/Mülheim. Nach der Angst vor Kindesentführern in Mülheim: Die Polizei ärgert sich über irreführende Diskussionen im Internet und bittet die Eltern um einen klaren Kopf. Das ist offenbar eine Frage der Gewöhnung: Für die Polizei ist der Pädophilen-Alarm Alltag, für die Eltern nicht.
Die Meinung der Polizei Essen/Mülheim über Facebook scheint derzeit nicht die allerbeste zu sein. Schon vergangene Woche hatte die Polizei in einer Pressemitteilung für eine Behörde ungewöhnlich deutliche Worte gefunden über das, was da in dem sozialen Netzwerk vorgegangen ist. „Möglicherweise“, so schrieb die Polizei, habe die „aktuelle, heftige Diskussion in den sozialen Netzwerken“ dazu beigetragen, dass „eine Atmosphäre entstanden“ sei, „die Lehrer und Eltern in Unruhe versetzt“. Ungewöhnliche Worte in einer Mitteilung, in der es eigentlich um etwas ganz anderes ging - nämlich den Verdacht eines versuchten Sexualverbrechens.
Eltern hatten sich im Internet gegenseitig vor einem wirklichen oder vermeintlichen Kindesentführer gewarnt, der vor einer Grundschule im Stadtteil Broich versucht haben soll, ein Kind in sein Auto zu locken. Doch was dort zu lesen war, hatte teilweise mit den Fakten nichts mehr zu tun: Mal wurde aus dem gescheiterten Entführer ein erfolgreicher, mal kam noch ein weiterer hinzu – der stellte sich dann aber als ein Vater heraus, der sein eigenes Kind von einem Spielplatz schleppen musste.
"Es ist gefährlich, seine Angst öffentlich zu teilen"
Die Polizei hat diesen Erkenntnissen seit Donnerstag keine neuen mehr hinzufügen können, aber ihre Haltung zu der Facebook-Welle hat sich gefestigt. Behördensprecher Peter Elke sagt: „Es ist gefährlich, wenn man seine Angst öffentlich teilt und so auch noch anderen Angst macht.“
Elke berichtet, dass seine Behörde jeden Tag solche Hinweise auf angebliche Pädophile bekomme. „An manchen Tagen sind es fünf, an anderenTagen fünfzig“, so Elke. Trotzdem könne er sich nicht an ein wirkliches Sexualdelikt erinnern. Die Polizei verspricht, solchen Hinweisen werde auch nachgegangen. Aber das in Mülheim vergangene Woche, das grenzt für Peter Elke an Hysterie. Die Eltern seien in so einer Situation verpflichtet, nüchtern zu bleiben.
Nüchtern bleiben, wenn man Angst ums eigene Kind hat – wohl nichts ist schwieriger als das. Zumal es nicht nur die Fälle gibt, in denen am Ende „alles halb so schlimm“ war – sondern auch die anderen. Zwei widersprüchliche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit:
Heiligenhaus: Unheimlich, aber nicht kriminell
Im November 2013 fürchteten Eltern in Heiligenhaus um die Sicherheit ihrer Kinder. Einige von ihnen warnten sich auf Facebook gegenseitig vor einem Mann, der Kinder anspreche und verfolge. Der Anlass: Zwei Mädchen hatten berichtet, sie seien auf dem Weg von der Schule nach Hause von einem Fremden verfolgt worden. Sie flüchteten sich in einen Hauseingang, klingelten bei Privatleuten, diese riefen die Polizei.
Die Ermittlungen ergaben: Der Mann, ein Obdachloser, hatte den Mädchen zwar einen Schreck eingejagt – für ein Sexualdelikt oder irgendeine andere Straftat gab es aber noch nicht einmal einen Anfangsverdacht. Bei der Polizeibehörde in Mettmann stellt man heute fest, dass nach der Aufregung im November keine weiteren Hinweise zu dem Mann mehr kamen. „Entweder er hat sein Verhalten geändert“ überlegt Polizeisprecher Frank Sobotta – „oder die Leute haben sich an sein Verhalten gewöhnt.“
Iserlohn: Beängstigend und bislang nicht aufgeklärt
Im August ging in den Iserlohner Ortsteilen Hennen und Rheinermark die Angst um: Drei Familien meldeten sich bei der Polizei, weil ein Mann an verschiedenen Tagen versucht haben soll, Kinder in sein Auto zu locken – zwei elfjährige Jungen und ein sechsjähriges Mädchen. Auch hier informierten sich Eltern gegenseitig per Facebook und bei Elternabenden.
Noch heute klingt Polizeisprecher Norbert Pusch verärgert, wenn er über die Diskussion spricht, die damals „sechs oder sieben Wochen durch Facebook geisterte“. Letztlich konnte die Polizei aber gar nicht anders, als die Hinweise sehr ernst zu nehmen. Sie entdeckte Parallelen zu ähnlichen Vorfällen in Schwerte und in Menden und intensivierte im Oktober die Suche nach einem Mann mit schütterem Haar und schwarzem Geländewagen. Fast alle Kinder hatten ihn so beschrieben. Bis heute blieben die Ermittlungen aber ohne Erfolg.
Eltern in Panik verunsichern auch die Kinder
Als im November der Vorfall mit dem unheimlichen Obdachlosen in Heiligenhaus hochkochte, warnte die im Stadtteil tätige Sozialarbeiterin Gabriele Eisenkopf bereits vor Hsyterie. Jetzt, knapp drei Monate später, sieht sie ihre Einschätzung bestätigt. „Es ist ein schmaler Grat, das weiß ich“, sagt sie. Natürlich sollten Eltern sich austauschen, wenn sie etwas Verdächtiges bemerkt haben. „Aber Panik zu verbreiten, ist das Schlimmste, was man machen kann. Das schafft bei Kindern weder Vertrauen noch Sicherheit.“
Die Sozialarbeiterin hat von den Diskussionen auf Facebook eine Meinung, die derjenigen der Mülheimer Polizei nicht unähnlich ist. Fragt man sie nach einem Rat, wie Eltern mit der gefühlten oder tatsächlichen Gefährdung durch Entführer umgehen sollten, dann nennt sie diesen. Er ist nur leider für die betroffenen in Mülheim, Heiligenhaus und Iserlohn nicht mehr umzusetzen. Nämlich mit den Kindern zu sprechen und ihnen ganz konkrete Verhaltenstipps zu geben – bevor im Viertel irgendetwas erzählt wird.