Mülheim. .
„Ein Glück, dass da die Kohle war“, betitelten Birgit Schlegel und Walter Schmidt eine Broschüre, in der sie 2010 die Alltagsgeschichte der Siedlung Mausegatt/Kreftenscheer aufschrieben. Ab 1899 wurde die heute aus 200 Ziegelsteinhäusern bestehende Siedlung als Colonie Wiesche für die Heißener Bergleute vom Mülheimer Bergwerksverein gebaut. Hinter dessen Gründung standen 1897 die Industriellen August Thyssen und August Thyssen sowie der Bankier Leo Hanau.
Bergleute wurden in der Zeit der Hochindustrialisierung gebraucht. Um sie an die Ruhr zu locken, wurden kleine Werkswohnungen mit Garten gebaut. Auch Schweine, Ziegen, Hühner, Tauben und Gemüsebeete gehörten damals zum Bergmannshaushalt. Allein auf den Mülheimer Zechen arbeiteten um 1900 rund 3000 Kumpel. Und wer auf der Zeche arbeitete, hatte auch das Anrecht auf eine Bergmannswohnung. Die war 60 Quadratmeter groß.
Schweine, Ziegen, Hühner, Tauben
Das Wort Kumpel war Programm. Die Bergleute und ihre Familien hielten zusammen, nicht nur unter Tage. „Wenn eine Frau krank wurde und ihre Familie nicht mehr versorgen konnte, war es klar, dass die Nachbarn halfen, damit die Wäsche gewaschen werden konnte und die Kinder morgens ein Frühstück bekamen“,, erinnert sich der 80-jährige Ex-Bergmann Walter Schmidt. Der in Basel geborene und in Heidelberg aufgewachsene Gastwirtssohn sollte nach dem Willen seines Vaters Koch werden. Doch er suchte die Freiheit und das selbst verdiente Geld. Beides fand er an der Ruhr. 1951 kam er als Bergmann nach Mülheim. Seit 1954 wohnt er in einem alten Bergmannshaus an der Mausegattstraße, in dessen Garten früher ein Plumpsklo stand.
„Hier brauchte man keine Rechtsanwälte. Hier wurden Konflikte selbst geregelt“, erzählt Schmidt mit einem Schmunzeln auf den Lippen und unterstreicht das Gesagte mit einer Faust, die er in die flache Hand schlägt. An den rauen Ton, der unter den Kumpeln herrschte, musste sich Schmidt erst gewöhnen. Doch er merkte nicht nur bei Unfällen unter Tage, dass man sich auf die handfeste Hilfe seiner Kumpel verlassen konnte.
Jeder kannte jeden in der Gemeinschaft
Das galt auch bei Familienfesten, die gerne in den Vorgärten, also halb öffentlich, gefeiert wurden und bei denen sich die Nachbarn mit Tischen, Stühlen, Geschirr oder Besteck aushalfen. „Man lebt hier nicht anonym. Wir haben eine gute Gemeinschaft. Auch die jüngeren Nachbarn helfen sich gegenseitig, wenn es darauf ankommt“, versichern Gisela de Lorie und Hans Münzenhofer. Es war vor allem dieses Gemeinschaftsgefühl, dass sie anzog und dazu motivierte, 2005 in ein altes Bergmannshaus an der Mausegattstraße zu ziehen.
Dass die Bergmannssolidarität auch die Schließung der letzten Zeche Rosenblumendelle (1966) überlebte, zeigte sich vor 35 Jahren, als die Bewohner um den Erhalt der alten Bergmannssiedlung kämpften.
Der Kampf ums eigene Heim
Nachdem die Stinnes-Bergwerksgesellschaft ihre alten Bergmannshäuser 1969 in die neue Ruhrkohle AG eingebracht hatte, wurden diese zunächst von der Veba gekauft, verbunden mit einem lebenslangen Wohnrecht für die ehemaligen Bergleute. Doch dann sollten die alten Zechenhäuser 1977 an den SWB verkauft und modernisiert werden.
Viele Bewohner, die ihre Häuser bereits teilmodernisiert hatten, fürchteten hohe Modernisierungs- und Mietkosten oder gar den Verkauf und Verlust ihres Zuhauses. Es kam zu turbulenten Bürgerversammlungen und Anhörungen.
Am Ende wurden die alten Bergmannshäuser nicht vom SWB, sondern von der Häuserbau GmbH gekauft, jedoch mit der Auflage, auf kostspielige Modernisierungen zu verzichten und den Bewohnern der Häuser ein Wohn- oder Vorkaufsrecht zuzusichern. Inzwischen steht die Mausegatt-Siedlung unter Denkmalschutz, ihre heutigen Bewohner sind Hauseigentümer.