Mülheim. . Von Frohsinn bis Ruhrschrei: Wie sich die Mülheimer Chorlandschaft wandelt und warum junge Leute Lust aufs Singen haben.
In der Adventszeit gehört das Singen sogar bei weniger musischen Menschen zum guten Ton. Ist das Singen also nicht nur des Müllers, sondern auch des Mülheimers Lust? Die sinkenden Sängerzahlen beim Chorverband scheinen eine andere Sprache zu sprechen. Wer sich bei klassischen Männer- und Frauenchören umhört, hört das Klagelied vom Nachwuchsmangel.
Horst Stemmer, Vorsitzender des ältesten Mülheimer Männerchores Frohsinn, der Silvester sein 160. Chorjahr einläutet, führt das vor allem darauf zurück, „dass sich junge Leute heute nicht mehr binden und frei sein wollen.“ Viele hörten sich zwar zu Hause klassische Musik an, wollten aber nicht jede Woche zur Probe kommen, um klassische Lieder zu singen. Stemmer sieht aber auch rechtliche Schwierigkeiten, wenn es darum geht, moderne Lieder für die Stimmlage von Männerchören umzuschreiben.
Er weiß, dass sich manche älteren Chorbrüder und -schwestern mit englischen oder französischen Liedern eher schwer tun. Als Stemmer in den 60er Jahren zum Frohsinn stieß, hatte der noch über 100 Sänger. Heute sind es 23. Deshalb ist für ihn Kooperation das Gebot der Stunde. So bilden der Frohsinn und Essener Männerchor Apollo eine Chorgemeinschaft, die bei Konzerten mit bis zu 50 Sängern auf der Bühne steht. Die meisten gehören allerdings zur Generation 60 plus.
Stirbt der Chorgesang aus? Singen wir demnächst nur noch vor dem Tannenbaum daheim „O, du fröhliche?“ Die Abgesang wäre wohl verfrüht. Denn es gibt sie, die jungen und jüngeren Leute, die gerne gemeinsam singen möchten. Man findet sie zum Beispiel montags um 20 Uhr im Pauluskirchen-Haus an der Witthausstraße 11. Dort treffen sich neun Frauen und fünf Männer zwischen 18 und 51 Jahren zur gemeinsamen Probe des Ruhrschreis.
„Die Zeit ist reif für Neues“
Ruhrschrei, das sind Leute wie du und ich, die irgendwann und irgendwie schon mal in einem Chor gesungen haben und jetzt wie Marcus Schumacher fanden, „dass die Zeit reif für etwas Neues ist.“ Die Bandbreite der Chorgeschwister, die sich vor dem Singen erst mal locker machen, damit die Körperspannung stimmt, und einstimmen mit „Die, Du, da, bla, bla, bla“, reicht von der Schülerin und der Hausfrau über den Architekten und den Produktmanager bis zum Sachbearbeiter.
„Wir wollten einen etwas ironischen Namen haben, der etwas mit unserer Region zu tun hat“, erklärt Claudia Kruszka die ungewöhnliche Namenswahl des Ruhrschreis, der sich im Februar 2010 zu seiner ersten Probe traf. Den Anfang machte Bea Wippich, mit einer Zeitungsanzeige, in der sie sangesfreudige Mitstreiter für ein neues Ensemble suchte, nachdem sie mit Christiane Böckeler bereits eine Chorleiterin gefunden hatte.
Beim Ruhrschrei bekommt man nicht „Am Brunnen vor dem Tore“ oder Verdis Gefangenenchor aus Nabucco“, sondern „Die perfekte Welle“ von Juli, den „Rammstein“-Engel oder „So soll es sein, so kann es bleiben“ von Ich&Ich zu hören. Da wird im großen Halbkreis gesungen und gewippt. „An unserer Choreografie arbeiten wir noch“, scherzt Kruszka. Doch der Zuhörer spürt Frische und Lebensfreude. Und das alles a cappella. Das Klavier im Probenraum wird nur benutzt, um den ersten Ton anzustimmen.
Man singt moderne Jazz- Rock- und Poptitel. „A cappella zu singen ist nicht leicht, aber das macht den Reiz aus. Hier kann man sich nicht an Instrumenten festhalten. Hier kommt es auf jede Stimme an, die man als Instrument darstellen muss“, erklärt Andreas Jacobi, warum Ruhrschrei bei ihm Anklang fand. Und nicht nur bei ihm, wie zwei Konzerte zeigten, bei denen man zusammen mit dem bekannten Düsseldorfer Ensemble Jazzline ein Publikum vom Kleinkind bis zur Oma begeisterte. „Um ein Konzertprogramm von eineinhalb bis zwei Stunden allein bestreiten zu können, brauchen wir etwa 20 Lieder. Zurzeit studieren wir gerade unser elftes Lied ein“, erzählt Jacobi.
Der Besucher staunt über die Dynamik der Chorprobe, obwohl die Chorleiterin an diesem Tag aus gesundheitlichen Gründen nicht den Ton angeben kann. „Das ist kein Problem. Wir sind ein sehr demokratischer Chor und entscheiden immer gemeinsam, was wir singen wollen“, betont Ralf Meyers.
„Zu wenig neue Ideen“
Dass macht den Ruhrschrei auch für Johanna Esser (18) so attraktiv. „Viele Chöre haben sehr konservative Chorleiter, die ihre klassisches Programm durchziehen und zu wenig auf neue Ideen eingehen“, glaubt sie. Obwohl sie gerne klassische Musik hört, findet sie sich in der klassischen Chorliteratur mit ihrem Lebensgefühl einfach nicht wieder. „Außerdem klingt ein Chor nicht mehr gut, wenn die Stimmen mit der Zeit brüchig werden, weil der Generationenmix nicht mehr stimmt“, meinen Jacobi und Esser.
„Singen wird auf keinen Fall aussterben. Hip-Hoper singen ja auch. Singen hat viel mit Gefühl zu tun. Es erfrischt und befreit den Kopf“, blicken Viola Sänger und Doris Geisen optimistisch in die Zukunft. Und der Geschäftsführer des Chorverbandes, Karlheinz Mertins, glaubt mit Blick auf viele neue, kleine Ensembles in Firmen und Schulen sogar: „Der Gesang ist wieder im Aufwind.“