Mülheim. .

Dicke Kinder sind sozusagen ein zunehmendes Problem: Ein Fachkongress beschäftigte sich kürzlich in Bochum mit dem Thema Fettsucht bei jungen Menschen. Dr. Nicole Lobeck-Chenard, die im Gesundheitsamt den Kinder- und Jugendärztlichen Dienst leitet, weiß aus Schuleingangsuntersuchungen und viel Erfahrung, dass betroffene Kinder meist erst, wenn sie in die Schule kommen, beginnen, ungesund zuzunehmen: etwa nach dem achten Lebensjahr.

„Das wissen wir und das sehen wir auch.“ Die Gründe sind schnell aufgezählt: zu viel und die falsche Ernährung, Bewegungsmangel. Daten und Fakten gibt es dazu im Gesundheitsamt nicht, weil Mülheim keine Schulentlassungsuntersuchungen macht, wie es andere Städte tun. Das sei eine Frage der Kapazitäten. „Wünschenswert wäre es.“

Bei den Sechsjährigen hat die Kinderärztin festgestellt: „Fakt ist, dass das Thema Übergewicht im Moment nicht zunimmt.“ Die meisten künftigen Schulkinder lägen gewichtsmäßig im Normbereich, und Lobeck-Chenard sieht auch erste Tendenzen, dass es auch weniger übergewichtige I-Dötzchen gibt.

Als einen Grund für diese positive Entwicklung sieht sie die Bemühungen des Gesundheitsamts (und des Schulamts), mit Präventionsangeboten wie „Prima Leben“ mehr Bewusstsein für Bewegung, Entspannung und gesunde Ernährung bei Kindern und Eltern zu schaffen. Seit rund zwei Jahren werden Themen wie ein gesundes Frühstück und Bewegungsspiele in Kindertagesstätten behandelt.

Bei der Schuleingangsuntersuchung wird Eltern von Kindern ein Sportgutschein des Mülheimer Sportbundes angeboten, der Kindern, die noch in keinem Verein Mitglied sind, eine kostenlose Mitgliedschaft für die Dauer eines Jahres ermöglicht. „Ein Kind, das dreimal in der Woche zum Fußball geht, hat nachmittags weniger Zeit, um vor dem TV-Gerät oder dem PC zu sitzen“ , beschreibt die Kinderärztin das Ziel des von der Stinnes-Stiftung geförderten Projektes. Die Angebote reichen von Aikido bis Turnen, und man kann damit so manchem Problem spielerisch begegnen, bevor es sich auswächst: fein- und grobmotorische Auffälligkeiten werden überwunden, das Sprachwissen gefördert, eine soziale Integration gibt es obendrein: „Beim Sport sind alle gleich.“

Das Gesundheitsamt berät Familien beim Thema Ernährung und vermittelt Angebote für dicke Kinder, um das Übergewicht zu reduzieren. „Nichts ist ja schwerer, als das Thema Übergewicht in den Familien zu thematisieren“, weiß Dr. Lobeck-Chenard. Wenn der Sohn in der Pubertät Mengen verputzen kann (und dabei nichts ansetzt), ist es für die Eltern schwierig, der kleinen moppeligen Schwester das Essen streng einzuteilen.

„Übergewicht bei Kindern ist ja selten krankheitsbedingt“, so Nicole Lobeck-Chenard. Ess- und Kochgewohnheiten hätten sich, wie der Lebensrhythmus überhaupt, in den Familien geändert. Übergewicht ist nicht nur ein Thema der Kinder, sondern auch der Erwachsenen: „Das Essen ist nicht mehr die Hauptsache – wir essen nicht mehr bewusst, sondern nebenbei, vor dem Computer oder dem Fernsehgerät.“ Gegessen werden Fertiggerichte, man holt sich schnell was auf der Straße beim Imbiss – „in diese Strukturen wachsen die Kinder hinein“. Das fange damit an, dass es in vielen Familien keine Frühstückskultur mehr gebe. Man müsse diesen Familien eine Änderung des Lebensstils bewusst machen.

Eine andere Geschichte ist das Frustessen, mit dem manche Kinder einschneidende Ereignisse wie Scheidung oder Tod verarbeiten. „Bei Kindern, die um die 150 Kilo wiegen, stecken oft sehr, sehr traurige Lebensgeschichten dahinter“, weiß Nicole Lobeck-Chenard. „Das ist ein Hilfeschrei.“