Mülheim. Die Justiz klagt ohnehin über Überlastung. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Verhandlungen platzen, weil Angeklagte und Zeugen nicht kommen.
Stell dir vor, es ist Gerichtsverhandlung - und niemand geht hin. Zwei Tage jüngst an Mülheims Amtsgericht ist das Exempel dafür, wie die deutsche Justiz, ohnehin überlastet, zusätzlich gehemmt ist, ihre Aktenberge abzutragen.
Acht Strafverhandlungen sollte es an jenem Tag im April geben. Drei mussten kurzerhand abgesagt werden. Der Grund: Angeklagte oder Zeugen oder auch gleich alle waren nicht zum Termin erschienen. Wenige Tage später dasselbe: Fünf Verhandlungen, zwei finden nicht statt. Auch hier galt offenbar für einige vorgeladene Prozessbeteiligte: „Null Bock auf Gericht!“
Schätzungen aus der Praxis: Hohe Zahl an Angeklagten schwänzt Gerichtstermine
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Eine Statistik zu geplatzten Verhandlungsterminen führt das Amtsgericht nicht. Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter wissen aber zu berichten, dass eher Angeklagte, die keinen Rechtsbeistand haben, nicht vor Gericht erscheinen. Das sei gar bei 30 bis 50 Prozent festzustellen, schwanken die Aussagen zu dem Phänomen. Doch auch etwa jeder zehnte Angeklagte, der mit Anwalt oder Anwältin unterwegs sei, bleibe einem Verhandlungstermin einfach fern. Doch nicht nur die Angeklagten, für die es vor Gericht um die Wurst geht, bleiben vielfach zu Hause. Auch Zeugen folgen der Vorladung vom Richter nicht.
Anwalt Rolf Ewert, der auf eine Berufspraxis von mehreren Jahrzehnten zurückblicken kann, erklärt sich das so: „Insbesondere Jüngere nehmen den Staat oft nicht mehr ernst.“ Und gerade bei jungen Straftätern spreche sich oft herum, bei welchem Richter man eher eine Verhandlung ungestraft schwänzen könne und bei welchem nicht. Dieselbe Klientel halte es oft nicht einmal für nötig, zu einem Gespräch bei ihren Pflichtverteidigern zu erscheinen, obwohl diese die einzigen wären, die ihren Kopf noch aus der Schlinge retten könnten.
Mülheimer Rechtsanwalt: Zeugen fühlen sich oft eingeschüchtert
Bei säumigen Zeugen sieht Ewert oft Angst im Spiel, insbesondere wenn es um schwerere Straftaten mit hohen Strafandrohungen für die Angeklagten geht. Der eine oder andere Zeuge mache keinen Hehl daraus, dass er sich bei der Vorstellung, im Gerichtssaal vor den Angeklagten und möglicherweise auch vor deren Freunden und Verwandten eine belastende Aussage machen zu müssen, eingeschüchtert fühle.
Die zahlreich ausfallenden Verhandlungen haben sowohl für das Justizsystem als auch für die säumigen Angeklagten und Zeugen Konsequenzen. Für die ohnehin überlastete Justiz bringen ausgefallene Termine eine zeitliche Mehrbelastung mit sich. In der Regel müssen für geplatzte Verhandlungen neue Termine angesetzt werden. Das kostet auch dem Steuerzahler Geld. Auch für termintreue weitere Beteiligte kann ein ausgefallener Termin ärgerlich sein. Rechtsanwälte und Sachverständige verlieren im Gerichtssaal unnötig Zeit. Und Zeugen, die ihre staatsbürgerlichen Pflichten ernst nehmen, haben unnötigen Zeit- und Reiseaufwand und wissen, dass sie für den Nachholtermin ärgerliche Verhandlungen mit ihren Arbeitgebern haben könnten, um für die nächste Sitzung frei zu bekommen.
Wer nicht bei Gericht erscheint, dem drohen hohe Kosten oder gar Haft
Es kann aber auch Konsequenzen haben, folgt man einer Vorladung nicht. Gegen Angeklagte und Zeugen, die vor Gericht nicht erscheinen, kann laut Gerichtsverfassungsgesetz ein Ordnungsgeld bis zu 1000 Euro verhängt werden. Zudem kann ein Richter für einen Folgetermin einen Vorführbefehl erlassen und den Zeugen von der Polizei zu Hause abholen lassen. Gegen einen Angeklagten, der nicht zur Hauptverhandlung kommt, kann sogar ein Haftbefehl erlassen werden. Er wird dann nicht unmittelbar vor dem nächsten Termin geholt, sondern kann sofort nach Erlass des Haftbefehls festgenommen werden. Wenn er Pech hat, sitzt er mehrere Monate bis zum Nachholtermin ein. Wer nicht zum Termin erscheint, muss unter Umständen auch die entstandenen Kosten aller Beteiligten tragen. Das können mit Blick auf Anwaltshonorare, Zeugen- und Sachverständigenkosten sowie Reisegelder im schlechtesten Fall hohe vierstellige Beträge sein.
Manch eine Verhandlung müsste allerdings nicht platzen, so Rechtsanwalt Ewert, wenn die Gerichte telefonisch besser erreichbar wären. Es komme nicht selten vor, dass Prozessbeteiligte sich verspäten, weil sie etwa mit dem Auto im Stau stehen. Verzweifelte Versuche, das Gericht zu erreichen – dies gilt auch für das Amtsgericht Mülheim – schlügen fehl, weil man nirgendwo ankündigen könne, dass man das Gericht verspätet erreichen wird. Richter müssen lediglich eine Viertelstunde auf Prozessbeteiligte warten. Danach können sie die Verhandlung für beendet erklären. Ewert sieht hier allerdings kein schuldhaftes Handeln der Gerichte, sondern schlichtweg deren Personalnöte als Ursache. Wenn eine Justizangestellte mangels Vertretung als Schriftführerin im Gerichtssaal sitze, könne sie nicht gleichzeitig das Telefon im Geschäftszimmer bedienen.
Eines scheint im Ergebnis sicher: Die zahlreichen Terminausfälle belasten das Justizsystem und alle, die an einem Prozess teilnehmen müssen, schwer.
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