Mülheim. Mülheims Kinderärzte fordern politisches Handeln: „Es gibt viel zu wenig Antibiotikum“, sagen sie. Was der Notstand für den Praxis-Alltag heißt.
Scharlach kursiert zurzeit unter Mülheims Kleinsten, auch Lungen- und Mittelohrentzündungen sieht Kinderärztin Dr. Ulrike Breckling vermehrt. Bei Krankheiten wie diesen verschreibt die Medizinerin regelmäßig Antibiotika-Säfte. Aktuell aber haben Mülheims Apotheken kaum noch passende Präparate vorrätig. Die Regale: leer gefegt.
Nur fünf der 20 kleinen Scharlach-Patienten, die Breckling am Freitag behandelt hat, konnte sie mit dem Penizillin versorgen, das eigentlich erforderlich ist. Bei allen anderen Jungen und Mädchen musste sie „zu Mitteln zweiter Wahl“ greifen. „Auch die machen gesund, aber es dauert zum Teil länger.“ Und es seien andere unerfreuliche Auswirkungen zu befürchten.
Seit Jahresbeginn spitzt sich die Situation zu, erzählt die sichtlich besorgte Ärztin am Freitagnachmittag: Die typischen Antibiotika-Fläschchen werden knapp und knapper. Tabletten gibt es noch, „aber die sind für Kinder ungeeignet“. Schon in den ersten sechs Wochen des Jahres sei es häufig passiert, erzählt Breckling, dass die vier Apotheken im Umfeld ihrer Innenstadt-Praxis die von ihr ausgestellten Rezepte nicht einlösen konnten. „Sie haben angerufen und wir haben gemeinsam nach Alternativen gesucht.“
Oft müssen die Jungen und Mädchen nun deutlich größere Saftmengen schlucken
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Nach einigem Hin und Her wurden noch immer Lösungen gefunden, doch oft musste dafür zum Beispiel die Dosis verändert werden. So mussten die Jungen und Mädchen zum Teil deutlich größere Saftmengen schlucken, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. „Und es ist schon etwas anderes, ob die Kinder zweieinhalb oder zehn Milliliter von dem oft scheußlich schmeckenden Zeug zu sich nehmen müssen.“
Der schlechte Geschmack allein ließe sich vielleicht noch ertragen. Deutlich schlimmer ist für Breckling die Sorge, dass durch die sogenannten Reserve-Antibiotika, die sie alternativ verordnen muss, Resistenzen zunehmen. Dass also die so wichtige Arznei eines Tages vielleicht gar nicht mehr wirken könnte: „Denn ohne Antibiotika können bakterielle Infektionen lebensbedrohlich werden.“ Auch vermeintlich unspektakuläre Krankheiten wie Zahnentzündungen könnten dann schlimmstenfalls zum Tode führen.
Ein kleiner Zettel reichte aus, um alles Verfügbare zu notieren
In den vergangenen 14 Tagen hat sich die Lage laut Breckling weiter verschlechtert: Da der Markt so ausgedünnt ist, rufen die Sprechstundenhilfen mittlerweile schon am Abend zuvor bei den umliegenden Apotheken an, um sich die wenigen Präparate durchgeben zu lassen, die überhaupt noch vorhanden sind. Kollegen und Kolleginnen aus anderen Stadtteilen verfahren ähnlich. Ein kleiner Zettel reichte Brecklings Team am Donnerstagabend aus, um alles Verfügbare für den Freitag zu notieren. Als der letzte kleine Patient am Freitag nach Hause gegangen war, war gerade noch ein letztes Fläschchen im Angebot der Apotheken. „Zum Glück kamen keine weiteren Kinder.“
Für die Ärztin ist es „ein schreckliches Gefühl“, die jungen Patienten, die teilweise mit hohem Fieber und schwer krank zu ihr kommen, vielleicht irgendwann gar nicht mehr adäquat versorgen zu können. Jeden Tag aufs Neue zu bangen, sei belastend: „Ich bin so dankbar, dass ich am Wochenende keinen Notdienst habe, da kommen schnell mal 100 Kinder. Und es steht zu befürchten, dass manche von ihnen unversorgt bleiben.“ Doch auch der Gedanke an den Montag, an dem sie wohl wieder jonglieren muss, bereitet Breckling Bauchschmerzen: „Noch ist alles gut gegangen, aber niemand weiß, was noch kommt. . .“
„Ich hätte nie gedacht, dass wir eine solche Situation in Deutschland mal erleben“
Die Apotheker sind für die Misere nicht verantwortlich, betont sie, „die tun alles, um noch irgendwo etwas aufzutreiben, bemühen sich total“. Doch auch das helfe nicht immer, und dann stehe sie „fast ohnmächtig“ da. „Ich hätte nie gedacht, dass wir eine solche Situation in Deutschland mal erleben“, sagt die Kinderärztin, die seit 21 Jahren in Mülheim praktiziert. „So schlimm war es noch nie.“
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Auch der Obmann der hiesigen Kinderärzte, Dr. Olaf Kaiser, ist in Aufruhr: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.“ Man müsse mittlerweile schon oft „abseits der Leitlinien arbeiten“, könne Empfehlungen zu Kinder-Medikamenten, wie sie etwa die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie ausspricht, nicht mehr umfänglich beachten. „Wir sind zum Beispiel gezwungen, sehr viel stärkere Medikamente zu verschreiben, als wir eigentlich bräuchten.“
„Der aktuelle Notstand ist brenzliger als vor Monaten der Engpass bei den Fiebersäften“
Die Mediziner halten den aktuellen Notstand für brenzliger als vor einigen Monaten den Engpass bei den Fiebersäften. „Darauf kann man notfalls verzichten“, sagt Breckling. Es gehe auch ohne Hustenstiller – „aber ohne Antibiotikum eben nicht“. Die Arznei könne auch nicht mal eben in Apotheken hergestellt werden, wie damals die Zäpfchen gegen Fieber, betont Kaiser. Man sei auf die Pharmaindustrie angewiesen.
Doch dort gebe es pandemiebedingt nach wie vor Lieferengpässe von Rohstoffen, „und es wird offenbar nicht mehr ausreichend bezahlt“, so Kaiser. Die wertvollen Lieferungen gingen deshalb oft ins Ausland – und nicht nach Deutschland. „Wirklich klar ist uns Ärzten aber nicht, warum es den Mangel überhaupt gibt“, sagt Kaiser, „und vor allem verstehen wir nicht, warum die Politik das nicht in den Griff bekommt.“ Die Mülheimer Kinderärzte und Kinderärztinnen forderten die Politiker nun ausdrücklich und dringend dazu auf, „endlich zu handeln, um die Versorgung der Kleinen sicherzustellen“.