Mülheim. Die Mülheimerin Martina L. (60) leidet seit einem Jahr unter chronischen Schmerzen. Ihr Leben hat sich dadurch um 180 Grad verändert, sagt sie.

„Für mich geht es gleich auf die Couch, heute geht nichts mehr“, sagt Martina L. Hinter den Brillengläsern füllen sich die blauen Augen der 60-Jährigen mit Tränen, schimmern glasig. „Manchmal erkenne ich mich selbst nicht wieder.“ Eigentlich, dachte die sonst so aktive Frau, die als Erzieherin, Mutter und Oma immer auf Achse war, sei sie fit. Der Bandscheibenvorfall von vor zehn Jahren schien überwunden, vor rund einem Jahr dann aber der jähe Einschnitt: „An einem Wochenende hatte ich plötzlich schlimme Nackenschmerzen bekommen, seitdem ging es nur noch bergab.“ Mehrfache Stenosen, sogenannte Einengungen des Wirbelkanals im Bereich der Halswirbel, lautet die Diagnose. Für Martina L. hat sich der Alltag um 180 Grad gedreht, sie gilt als chronische Schmerzpatientin.

Was für Außenstehende nur schwer zu begreifen ist, bestimmt das Leben der 60-Jährigen. „Es vergeht kein Moment, in dem ich nicht unter Schmerzen leide.“ Eine Operation im vergangenen Frühjahr brachte nicht die erhoffte Linderung und auch die Reha im Sommer war mehr eine Hilfe denn eine Lösung. „Ich bin natürlich um jeden Fortschritt dankbar“, will Martina L. sich richtig verstanden wissen – „aber zuletzt gab es davon nur noch wenige“.

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Besonders im linken Arm und im Nacken habe sie starke Schmerzen, hinzu kommen Kopfschmerzen und Schwindel. In ihrem Beruf als Kindergärtnerin hat die 60-Jährige seit jenem Wochenende nicht mehr gearbeitet, „und es bricht mir das Herz“. Die „Großen“ habe sie nicht mit verabschieden können, die „Kleinen“ nicht mal kennengelernt. „Ich wäre so glücklich, wieder arbeiten zu können.“ Aktuell aber undenkbar. Oft liegt Martina L. nachts wach – mehr als ein paar Stunden Schlaf seien nicht drin – und verliert sich in Gedanken.

„Ich kann nicht mehr der Mensch sein, der ich früher war“, schildert sie mit tränenerstickter Stimme. Immer wieder ertappe sie sich dabei, wie sie ihren Liebsten gegenüber aus der Haut fahre, patzig werde. „Ich meine das nicht böse, aber durch den wenigen Schlaf und die ständigen Schmerzen bin ich einfach gereizt.“ Was sie besonders belastet: „Für meinen Enkel kann ich nicht die aktive Oma sein, die ich gerne wäre. Am liebsten würde ich ihn mir schnappen und ganz viel unternehmen.“ Glücklicherweise habe die Familie viel Verständnis und fange sie auf. „Aber man sieht mir meine Krankheit nicht an und das macht es unter Bekannten oft schwierig.“

Mülheimer Sozialberaterin kennt die Parallelen bei Betroffenen

Wer selbst nicht unter chronischen Schmerzen leidet, kann meist nicht begreifen, wie belastend der Dauerzustand für Betroffene ist. Bettina Freding von der ambulanten Rehabilitation „Physalis“ hat oft mit chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten zu tun. „Das sind die verschiedensten Menschen mit verschiedenen Krankheitsbildern und Hintergründen.“ Während manche unter chronischen Rückenproblemen leiden, kämpfen andere mit einer Nervenkrankheit, weitere wiederum mit Rheuma. „Trotzdem machen alle ähnliche Erfahrungen“, so Sozialberaterin Freding.

Die Sozialarbeiterin Bettina Freding weiß um das Leid, das chronische Schmerzen bei Betroffenen verursachen.
Die Sozialarbeiterin Bettina Freding weiß um das Leid, das chronische Schmerzen bei Betroffenen verursachen. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Ablehnung durch das berufliche oder soziale Umfeld, aber auch der persönliche Umgang und das Erlernen von Akzeptanz spielen eine entscheidende Rolle für chronische Schmerzpatienten“, erklärt Lena Schütter vom Selbsthilfe-Büro des Paritätischen. Aus diesem Grund habe sich die Anlaufstelle in Zusammenarbeit mit der Physalis dazu entschieden, die Selbsthilfegruppe Schmerz zu reaktivieren. „Über die Corona-Pandemie hat die Gruppe pausiert und sich schließlich aufgelöst“, sagt Sozialarbeiterin Schütter. „Aber wir merken deutlich, dass der Bedarf da ist.“

Die Sozialarbeiterin Lena Schütter sagt: „Der Bedarf unter chronischen Schmerzpatienten ist da.“
Die Sozialarbeiterin Lena Schütter sagt: „Der Bedarf unter chronischen Schmerzpatienten ist da.“ © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Immer wieder gingen Anfragen im Selbsthilfe-Büro ein, Alter und Geschlecht kenne das Leiden chronische Schmerzen nicht. „Es ist wirklich eine Bandbreite gegeben“, sagt Bettina Freding. „Wir merken alleine hier in der Physalis, wie wichtig der Austausch der Betroffenen untereinander ist. „Ganz wichtig ist, dass Selbsthilfe als psychosoziale Ergänzung zu verstehen ist“, so Lena Schütter. „Es geht um den Austausch, die Gruppe agiert selbstständig.“ Vielen helfe es schon allein, vollkommen offen reden zu können, da das Verständnis für die persönliche Lage ein ganz anderes sei.

Martina L. nickt bestätigend und erzählt: „Mit den Frauen, die ich in der Reha nach der OP kennengelernt habe, halte ich bis heute Kontakt und das hilft mir.“ An der Selbsthilfegruppe möchte die 60-Jährige auch teilnehmen, erhofft sich davon etwas Erleichterung, zumindest für die Psyche.

>>> Selbsthilfegruppe Schmerz

  • Die Selbsthilfegruppe Schmerz, die in Zusammenarbeit des Selbsthilfe-Büro des Paritätischen NRW und der ambulanten Rehabilitation „Physalis“ wieder ins Leben gerufen wird, trifft sich jeden dritten Montag im Monat von 18 bis 19.30 Uhr in der „Physalis“, Wertgasse 30.
  • Am Montag, 27. Februar, laden die Initiatoren zu einem Infoabend ein, das erste Gruppentreffen ist für den 20. März geplant.
  • Interessierte werden darum gebeten, sich beim Selbsthilfe-Büro vormerken zu lassen. Möglich ist das telefonisch unter 0208 3004814 oder per Mail an selbsthilfe-muelheim@paritaet-nrw.org.