Mülheim. Der Drogentod mehrer junger Menschen in Mülheim wirft Fragen auf. Nun melden sich Eltern eines Jungen aus der Szene zu Wort. Was sie fordern.

Es ist eine Whatsapp-Gruppe, in der sich Eltern abends schreiben: „Wisst ihr, wo sie stecken?“ oder „Alles gut, ich habe sie gefunden.“ Ein Ort, an dem Verzweiflung auf Verständnis trifft und Frustration ausgelassen werden kann. Juliane und Markus (Namen geändert) sind beide Teil dieser Chatgruppe, sie möchten anonym bleiben. Was sie und die anderen Eltern eint: Ihre Kinder nehmen Drogen.

Seitdem vor zwei Wochen der Tod des 17-Jährigen im Skatepark bekannt wurde, verfolgt das Ehepaar die Berichterstattung dazu aufmerksam und ist fassungslos. „Diese Jugendlichen werden kriminalisiert“, sagt Markus. Mehr noch: „Das, was über diese Jugendlichen gesagt wird, ist schlichtweg falsch.“ Die beiden 17-Jährigen, die in diesem Jahr verstorben sind, kannte die Familie, teils schon jahrelang. „Beides wirklich tolle Jungs aus guten Familien“, sagt Juliane. „Ich habe das Gefühl, man will ein Bild von ihnen schaffen, das sie weniger wertvoll dastehen lässt.“ Gedealt habe keiner von beiden, beide waren sie Gymnasiasten mit Nebenjobs und Hobbys, beide aus bürgerlichen Verhältnissen – auch wenn die Polizei zuletzt im Sicherheitsausschuss davon sprach, sie seien als Dealer aktiv gewesen.

Drogentote in Mülheim – so berichteten wir:

„Natürlich, keine Frage“, ordnet Markus den Drogenkonsum seines Sohnes ein, „begrüßen wir es nicht, dass er Drogen nimmt.“ Aber – und hier nimmt das Paar, das im Mülheimer Süden in einem Einfamilienhaus lebt – Stadt und Polizei in die Pflicht: „Es wird viel zu wenig getan, um die Ursache des Drogen-Problems zu bekämpfen.“ Eigentlich, schildert Juliane, fühlen sie und ihr Mann sich oft alleine gelassen: „Die Drogenberatung stagniert auf einem theoretischen Level, es fehlt die Niederschwelligkeit.“ Eine geschulte Vertrauensperson vor Ort, an die sich Jugendliche wenden können, gibt es laut der 49-Jährigen nicht. „Dabei wäre das so wichtig. Der Umgang mit der Polizei ist nur noch schwierig.“

Das Elternpaar berichtet von Razzia-artigen Kontrollen und Leibesvisitationen im Skatepark und in der Müga, bei denen die Jugendlichen grob angefasst und harsch beleidigt würden. „Die Polizei ist da kein Freund und Helfer mehr, sondern wird für die Jugendlichen immer mehr zum Feindbild“, erklärt Markus. Regelmäßig sprechen die Eltern mit ihrem Sohn relativ offen über seinen Drogenkonsum. „Was viele vergessen: Drogen nimmt man nicht, weil man sich das wünscht“, erklärt Juliane. „Da steckt eigentlich immer ein tiefergehendes Problem hinter, das mit Drogen gelöst werden soll.“ Diese Sicht auf die Dinge ließen Stadt und Polizei aus Sicht der Eltern komplett vermissen: „Ich habe das Gefühl, die Kinder werden wie Abschaum behandelt.“

Drogen-Szene in Mülheim: Opiate sind leicht zu kriegen

Statt die Kinder als Kriminelle darzustellen, sei es aus Sicht der Eheleute unumgänglich, die Wurzel des Problems zu packen. „Es ist ganz offensichtlich, dass hier in Mülheim etwas Toxisches im Umlauf ist“, sagt Markus. „Unsere Kinder sind Opfer derjenigen, die ihnen das verkaufen. Die muss man fassen.“ Rund um den Skatepark liefen Dealer frei rum, verkauften Benzodiazepine – „Das ist krass, da kriegst du einen Beutel mit zehn Tabletten und zahlst weniger als zehn Euro“, schildert Juliane. Daran änderten auch Kontrollen der Polizei nichts, solange sich diese gegen „die Falschen“ richteten. „In der Stadt ist durchaus bekannt, dass es hier auch Groß-Dealer gibt. Das ist ein offenes Geheimnis.“ Wieso die Behörden allerdings nicht gegen sie vorgingen, ist nicht nur Markus und Juliane ein Rätsel. „Die anderen Eltern und wir sind wirklich ratlos und verstehen das nicht“, so Juliane.

Den Drogenkonsum ihres Sohnes einzuschränken oder gar zu beenden, habe das Paar versucht und versucht es noch immer. „Aber darum geht es hier auch gar nicht – es geht um das große Ganze“, sagt Markus. „Das Problem ist viel größer, als wir bislang sehen“, fürchtet der 49-Jährige. Durch die Coronakrise sei den Kindern Lebenslust genommen worden, Mülheim biete als Stadt kaum günstige, attraktive Freizeitangebote für Jugendliche. „Natürlich schlägt das aufs Gemüt, und sie suchen sich einen Ausgleich.“ Juliane und Markus stehen im Austausch mit anderen Eltern, deren Kinder drogenabhängig sind. „Allesamt aus der Mittelschicht und gefestigtem Umfeld“, sagt Juliane. „Das sind wirklich alles Familien von nebenan.“

Drogenproblem in Mülheim: Ganze Generation betroffen

Mülheims Drogen-Problem unter Jugendlichen ist aus Sicht der beiden längst mehr als eine Frage von Gruppenzwang, der eine einzelne Clique betrifft. „Das ist eine ganze Generation, die darunter leidet“, sagt Markus. „Eigentlich alle im Alter von 15 bis 18 Jahren und alle, die wir kennen, besuchen eines der fünf Gymnasien.“ Die Stadt verschließe die Augen vor dem wahren Problem, ergreife keine Maßnahmen, die wirklich wirksam seien. „Zum Beispiel könnte man den Skatepark von einem Dienst überwachen lassen, ganz ohne Kontrolle“, so der 49-Jährige. „Die Kinder sind immer noch vorrangig zum Skaten da, immerhin.“ Es brauche mehr Streetworker und Schulsozialarbeiter, führt Juliane die Liste fort. „Einfach jemanden, mit dem sie sprechen können.“

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Dass nach dem Todesfall im Sommer nun ein weiterer Jugendlicher in Zusammenhang mit Drogenkonsum verstorben ist, hat das Paar schwer getroffen. „Ich habe das Gefühl, unsere Kinder werden nicht als schützenswert betrachtet und das tut weh“, sagt Juliane. „Man fühlt sich vorverurteilt und ohnmächtig.“ So werde die Abschottung der Jugendlichen von der Polizei als potenziellem Helfer nur weiter verstärkt, die Fronten würden weiter verhärtet. „Wie viele Kinder müssen noch sterben, ehe die Behörden ihr Handeln überdenken“, fragt Markus. „Eigentlich denkt man sich mittlerweile nur noch: ,Wer ist der Nächste?’“

>>> Das sind Benzodiazepine

  • Laut Bundesministerium für Gesundheit ist die Abhängigkeit von Benzodiazepinen ein verbreitetes Problem in Deutschland. Bundesweit sei von mehreren Millionen Benzodiazepin-Abhängigen auszugehen.
  • Benzodiazepine wirken unter anderem angstlösend sowie sedierend und finden in der Psychiatrie Anwendung bei der Behandlung von Angst- und Unruhezuständen. Benzodiazepine gelten weltweit als die Medikamente mit der höchsten Missbrauchsrate.
  • Wenn gleichzeitig Medikamente, Alkohol und weitere Drogen oder Medikamente konsumiert werden, können sich diese Substanzen gegenseitig verstärken, was schnell zu einer Überdosierung führen kann. Die Wechselwirkungen sind unberechenbar.