Mülheim. Krieg, Pandemie, Klimakrise: Die bedrückende Weltlage macht vielen Angst. Ist das normal? Eine Psychologin aus Mülheim klärt auf.
Permanent ereilen uns schlechte Nachrichten. Aber wie erkennt man, ob die bedrückende Weltlage oder eine ernsthafte Depression der Grund für die eigene Stimmung ist? Das erklärt die Psychologin Amelie Baumann aus Mülheim im Interview.
Frau Baumann, Sie sind psychologische Psychotherapeutin und haben in Mülheim eine eigene Praxis. Wie reagiert die Psyche allgemein auf Krisensituationen? Erst Schock und dann Gewöhnung?
Amelie Baumann: Das kann man pauschal nicht beantworten. Aber ich würde da nicht von Gewöhnung sprechen. Es geht in erster Linie darum, wie ein Mensch das Ereignis für sich persönlich bewertet. Denn die eigene Reaktion hängt ja von der eigenen Bewertung ab. Wenn ich etwas als bedrohlich bewerte, folgt eine Stressreaktion.
Bemerken Sie einen Anstieg des psychologischen Bedarfs in den letzten Monaten?
Teilweise ja. Viele Menschen können ihre Angst nicht mehr regulieren. Vor allem die ältere Generation leidet, weil traumatische Erinnerungen an die eigene Kriegserfahrung oder Flucht wieder hochkommen. Dadurch sind sie plötzlich erheblich belastet.
Und abgesehen von der Kriegsgeneration? Ist es ein gesellschaftliches Phänomen, dass viele Menschen in Krisen mit Angst zu kämpfen haben?
Ja, Angst ist eine Form von Affekt, also eine emotionale Reaktion auf ein Ereignis. Viele haben das Gefühl von Hilflosigkeit oder Kontrollverlust. Andere sind wütend. Auch Wut kann extrem belasten, wenn man sie nicht konkret an jemanden adressieren kann. Und wenn die Hilflosigkeit anhält, folgt die Depression als Reaktion.
Welche ersten Anzeichen gibt es dafür?
Wenn Emotionen wie Angst, Hilflosigkeit oder Schmerz über Wochen oder Monate anhalten, schlimmer werden oder die eigene Funktionalität im Alltag einschränken, sind das Gründe, sich Hilfe zu suchen.
Welche psychologischen Tipps gibt es für den Alltag?
Man kann sich fragen: Was kann ich selber tun und wozu bin ich bereit? Manche übernehmen eine ehrenamtliche Tätigkeit. Andere legen sich einen Notfallplan zurecht und spielen durch: „Was passiert denn, wenn XYZ eintrifft?“ Sie schreiben auf: „Dann mache ich XYZ.“ So ein Plan schafft Sicherheit in einer Situation, die für viele als unkontrollierbar empfunden wird.
Ich rate außerdem dazu, Räume zu finden, in denen man sich mit dem eigenen Erleben konkret auseinandersetzen kann. Also mit Angehörigen und Freunden bewusst über Sorgen und Ängste sprechen – und zwar nicht nur über das Handy und die digitale Kommunikation, sondern persönlich.
Apropos Mediennutzung: Viele fühlen sich überfordert, weil eine schlimme Nachricht die nächste jagt. Hilft es, den Konsum einzuschränken?
Wenn man merkt, dass durch einen spezifischen Medienkonsum überhaupt nichts Funktionales und Konstruktives in einem entsteht, dann rate ich immer dazu, sich davon zu distanzieren. Manche sagen: „Ich kann mir diese Bilder nicht mehr anschauen, davon bekomme ich Alpträume“. Sie verändern dann die Art des Konsums und lesen Zeitung, anstatt Kurzfilme von Journalisten anzusehen. Man sollte für sich selbst entscheiden: Geht es mir besser, wenn ich die Nachrichten höre, sehe oder lese?
Wenn man den Nachrichtenkonsum reduziert, ist man dann automatisch ignorant?
Bei dieser Debatte kommt teilweise der Vorwurf auf, man würde wegsehen. Aber das Wort „Ignoranz“ finde ich kritisch. Es mag Menschen geben, die tatsächlich kein Interesse an der Nachrichtenlage haben. Wenn es aber um eine bewusste Distanzierung geht, ist das etwas Konstruktives.
Denn es bringt ja gar nichts, sich permanent mit etwas zu beschäftigen, wenn man nur noch darunter leidet. Dann ist man nicht mehr handlungsfähig, irgendwas Sinnvolles zu tun.
In Deutschland gab es durch den Frieden und den Wohlstand lange kaum Ängste oder Weltschmerz. Sind viele überfordert, weil sie Krisen nicht kennen? Und ist es vielleicht auch gut, sich mal mit diesen Ängsten auseinanderzusetzen?
Ja, diese schmerzvoll erlebte Auseinandersetzung ist per se eine gesunde psychische Reaktion auf Krisen. Als Psychotherapeutin würde ich aber nicht sagen, dass Weltschmerz keine Rolle gespielt hat vor Corona und der Ukraine-Krise. Es gibt immer wieder Betroffene, die unter Themen wie Krieg oder Hungersnot leiden.