Fast 60 Prozent der Deutschen empfinden ihr Leben heute als stressig. 67 Prozent erleben heute mehr Stress als noch vor drei Jahren. 40 Prozent der Berufstätigen beschreiben sich als „abgearbeitet“ und 33 Prozent sogar als „ausgebrannt.“
Das sind nur einige der nachdenklich stimmenden Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa jetzt im Auftrag der Techniker Krankenkasse durchgeführt hat. Was sind die Ursachen und Konsequenzen? Darüber sprach die NRZ mit dem Mülheimer Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten Ernst Nobel, der selbst seit über 20 Jahren als niedergelassener Psychotherapeut in Dümpten arbeitet und seine Berufskollegen auch im Kreisvorstand und im Bezirksstellenrat der kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein vertritt.
Warum fühlen sich heute viele Menschen gestresst?
Weil weniger Möglichkeiten bestehen, zur Ruhe zu kommen, und viele Menschen das Gefühl haben, nicht Nein sagen zu können zu zusätzlichen Anforderungen und Überstunden im Beruf. Es ist ja nicht ganz leicht, Entspannungsphasen in seinen Alltag einzubauen, wenn man seinen Lebensunterhalt verdienen und sich gleichzeitig um die Familie kümmern muss.
Ist der Anteil der Gestressten unter den 35- bis 45-Jährigen mit 80 Prozent deshalb besonders hoch?
Ja. Da haben Sie die Menschen, die in der Karriere nach vorne kommen wollen, Kinder zeugen, einen Baum pflanzen und ein Haus bauen und das alles bei steigenden Anforderungen im Beruf. Damit sind viele einfach überfordert.
Hatten Menschen früher weniger Stress?
Der beruflich verursachte Stress war früher auf wenige Berufsgruppen mit kurzzeitigen Spitzenbelastungen konzentriert. Es gab viele Nischenarbeitsplätze, wie etwa den Pförtner am Werkstor. Diese Arbeitsplätze gibt es heute kaum noch oder man kann von ihnen nicht mehr leben. Es hat eine enorme Arbeitsverdichtung stattgefunden. Wo früher zwei Menschen eine Arbeit gemeinsam machten, muss sie heute einer alleine erledigen. Aber nicht nur wer mit 35 Karriere machen will, hat Stress, sondern auch wer mit 35 noch immer keinen Job hat. Wir haben immer öfter das Phänomen der „lebenslangen Probezeit“, in der sich Menschen von einem befristeten Vertrag zum nächsten arbeiten müssen und gleichzeitig mit hoher Leistung und niedrigem Krankenstand für ihren Arbeitgeber unverzichtbar sein wollen. Wenn man es politisch ganz böse betrachtet, könnte man auch sagen: Wer abends todmüde ins Bett fällt, macht keine Revolution.
Was kann man individuell und gesellschaftlich tun, um Stress abzubauen?
Persönlich kann und muss ich um meiner Gesundheit Willen auch mal Nein sagen, auch wenn ich damit vielleicht negative Reaktionen riskiere. Ich kann in meiner Freizeit abends beim Spaziergang entspannen, statt mich mit der Chipstüte auf die Couch zu setzen und dann Stress zu bekommen, weil ich plötzlich Übergewicht habe und unzufrieden bin. Arbeitgeber müssen am Arbeitsplatz eine angenehmere Atmosphäre schaffen und Arbeitnehmern die Möglichkeit geben, Ruhe- und Entspannungsphasen einzubauen. Dazu kann auch mal ein halbstündiger Mittagsschlaf gehören. Man kann das machen, wenn dafür eine entsprechende Betriebskultur geschaffen wird, die begreift, dass sich Investitionen in den langfristigen Erhalt der Arbeitskraft auszahlen, während dauerhaft stressige Arbeitsbedingungen unproduktiv sind und hohe Gesundheitskosten verursachen.
Sollte man ein stressfreies Leben anstreben?
Stress ist nicht grundsätzlich schlecht. Vorübergehender Stress, bei dem Adrenalin und Cortisol ausgestoßen wird, den man zum Beispiel beim Sport als angenehm empfindet, kann leistungsfördernd sein. Aber wenn Stress zu einem unangenehmen Dauerzustand wird, macht er krank.
Wie so oft im Leben, liegt der goldene Weg in der Mitte, denn zu wenig Stress nach der Methode Schlaftablette ist ebenso leistungsmindernd wie ein dauerhaftes und zu hohes Stressniveau.