Mülheim. Manche haben es nie richtig gelernt, andere verlernt: Auch in Mülheim gibt es Deutsche, die nicht lesen und schreiben können. Wie die VHS hilft.

Menschen, die nicht lesen und schreiben können (oder nur ganz schlecht), gibt es auch in Deutschland mehr, als man glaubt. 6,2 Millionen sollen es laut einer Studie der Uni Hamburg bundesweit sein – und Heinz (60) aus Mülheim gehört zu ihnen. Vor allem das Lesen klappt bei ihm nicht. „Ich habe es zwar in der Schule gelernt, aber nicht gut genug. Und nach der Schule habe ich nie mehr gelesen oder geschrieben“, erzählt er.

Seine Lebensgeschichte spielt dabei eine Rolle. Eine Ausbildung zum Maurer bricht er ab. Danach dominiert eine Suchterkrankung lange seinen Alltag. Wenn es etwas Wichtiges zu lesen oder zu schreiben gibt, ist er auf seine Partnerin angewiesen. „Geh’ doch mal, kümmere dich drum, mach einen Kurs“, sagt sie zu ihm, aber er schiebt es immer wieder auf. „Ich habe viel Zeit verloren, aber jetzt will ich es richtig lernen“, sagt Heinz. Seit einem Dreivierteljahr besucht er in der Volkshochschule (VHS) den Kurs „Lesen und schreiben am Abend“. Er hält durch, findet sogar: „Das hilft mir ungemein, und ich hab’ tierisch Spaß daran.“

Neue Teilnehmer können in den Mülheimer VHS-Kurs jederzeit einsteigen

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Der Ehrgeiz hat auch seine Kurskolleginnen und -kollegen gepackt. Fünf sind sie momentan, die bei Sibylle Wellfonder Unterricht erhalten. Neue Mitstreiter können jederzeit einsteigen. Für Migranten ist dieses Angebot nicht gedacht, sondern für Deutsche, die das Lesen und Schreiben nie richtig erlernt oder wieder verlernt haben. „Das hat ganz unterschiedliche Gründe“, weiß die Kursleiterin, die ihren Job seit vielen Jahren ausübt. Ein unregelmäßiger Schulbesuch in der Kindheit beispielsweise gehöre dazu.

Ein Kursteilnehmer füllt im VHS-Kurs ein Aufgabenblatt aus. Er muss Wortlücken mit au oder ei füllen.
Ein Kursteilnehmer füllt im VHS-Kurs ein Aufgabenblatt aus. Er muss Wortlücken mit au oder ei füllen. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Andere Kursteilnehmer sind in der Schule nicht mitgekommen und keiner hat es bemerkt“, berichtet Sibylle Wellfonder. Auch die familiären Bedingungen in der Kindheit spielen oft eine Rolle: zu wenig Platz, kein ruhiger Raum für Hausaufgaben, Desinteresse der Eltern. „Manche haben auch einen Schulabschluss oder sogar eine Berufsausbildung abgeschlossen – und danach ist ihr Deutsch total verkümmert“, erzählt die Sprachlehrerin.

Omas wollen lesen lernen, um Enkeln vorlesen zu können

Versiert sind die meisten Analphabeten darin, ihr Unvermögen zu verbergen. „Ich habe meine Lesebrille nicht dabei“, ist nur eine von vielen Ausreden, die verschleiern sollen, dass man nicht lesen kann. „Das Thema ist schambesetzt“, hat Hannah Leitzen, Bereichsleiterin für Grundbildung & Alphabetisierung bei der VHS, festgestellt: „Die Betroffenen haben oft ein Unterstützungsnetzwerk aufgebaut. Familie und Freunde übernehmen die Aufgaben, bei denen man lesen und schreiben muss, für sie.“

Irgendwann geht es so aber nicht weiter – zumindest bei einigen: „Jemand verändert sich beruflich und stellt fest, dass er für den neuen Job mehr Sprache braucht“, nennt Leitzen ein Beispiel. Und Sibylle Wellfonder berichtet: „Ich habe auch schon Omas hier gehabt, die ihren Enkeln vorlesen wollten – und alles dransetzten, das Lesen und Schreiben noch zu erlernen.“

Jeder erhält Aufgaben, die seinem Wissensstand entsprechen

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Gelernt wird in der VHS nicht wie in der Schule. Man möchte die Teilnehmenden so weit bringen wie möglich – aber ohne Druck. Da die Voraussetzungen unterschiedlich sind, ist der Unterricht differenziert. Jeder erhält von Sibylle Wellfonder die Erklärungen und Aufgaben, die seinem Wissensstand entsprechen. „Es gibt sogar Menschen, die die Feinmotorik der Hände und Finger erstmal trainieren müssen, um wieder schreiben zu lernen“, so Leitzen. Andere können an altes Wissen anknüpfen. Jeder darf mitbestimmen, was und wie er lernen möchte. „Und natürlich darf man sagen: Ich kann das nicht. Oder: Das ist wirklich zu einfach für mich. Wir lachen hier im Unterricht auch viel“, berichtet die Kursleiterin.

Zur Kursstunde, an der wir Zeitungsleute teilnehmen, hat sie Wörter mitgebracht, bei denen die Anfangsbuchstaben fehlen. Die Frage ist: Gehört dort ein St-, ein Sp- oder ein Sch- hin? Und: Muss ich das gefundene Wort dann groß oder klein schreiben? Nicht immer einfach für die Schüler. Etwas leichter ist da eine andere Aufgabe: Man soll die Bezeichnungen von Tieren Bildern zuordnen. Gelehrt wird übrigens Druckschrift, denn „heute wird so viel am PC oder auf dem Handy geschrieben“, sagen die VHS-Frauen. Deshalb findet der Unterricht auch manchmal im PC-Raum statt, wo digitale Übungen gemacht werden.

Mülheimer sagt: Das Lesen ist unheimlich anstrengend für mich

Heinz hat an seinen Aufgaben heute „zu knabbern, aber das macht nichts“. Übung macht den Meister. „Das Lesen ist immer noch unheimlich anstrengend für mich, manchmal qualvoll. Aber langsam bekomme ich wieder ein Gefühl dafür“, sagt er. Mittlerweile kann er schon kleine Texte entziffern – Meldungen über Politik oder Musik in der Zeitung etwa, das interessiert ihn. Seiner Tochter hat er gesagt, dass sie ihm keine Sprachnachrichten mehr per Handy schicken soll, sondern Textnachrichten. So bekommt er weiteren Lesestoff – und einen guten Anreiz, auch ein paar Sätze zurückzuschreiben.

Alphabetisierung und Lebensqualität

In der VHS gehört die Alphabetisierung zu den Pflichtaufgaben, eine umfassende vorherige Beratung der Interessenten zählt unbedingt dazu. Infos: vhs.muelheim-ruhr.deWie eingeschränkt ist Ihr Alltag Was ist Ihre Motivation, zu lernen? Gibt es Wissen, an das Sie anknüpfen können? lauten nur einige der Fragen.Das Lernen in der Gruppe ist für die meisten angenehm, sie merken, dass sie nicht allein mit dem Problem sind.Viele bleiben lange Zeit im Kurs. Das Ergebnis laut Hannah Letzen (VHS): „Sie werden freier und selbstständiger - haben einen Zugewinn an Lebensqualität.“