Mülheim. Beim (abgesagten) Theatertreffen in Mülheim hätte das neue Stück von Sivan Ben Yishai sicher gut abgeschnitten. Der Text ist sehr berührend.

Die Theaterfans mussten in diesem Corona-Jahr auf hochkarätige neue Bühnenkost verzichten: Die Stücke 2020 fielen aus. Die einzige Arbeit, die jetzt doch noch in Mülheim gezeigt werden konnte, entschädigte dafür ein bisschen. „Liebe - Eine argumentative Übung“ – in einer Inszenierung des Nationaltheaters Mannheim – hätte sicher ganz vorne mitgemischt im Wettstreit um den Mülheimer Dramatikerpreis.

Falsche „Glaubenssätze“

Das Stück von Sivan Ben Yishai, einer israelischen Dramatikerin, die derzeit in Berlin lebt, überzeugt inhaltlich und sprachlich – und berührt die Zuschauer im Innersten. Denn es thematisiert einen Konflikt, den wir alle mehr oder weniger in uns ausfechten: Es geht um Ängste, Zweifel und Zwänge, um innere „Glaubenssätze“, die wir von anderen übernommen haben und übernehmen und die uns hemmen, unsere Bedürfnisse zu verwirklichen. Sie sind nur schwer zu überwinden.

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Die Geschichte einer modernen Partnerschaft wird erzählt, im Setting eines Comics entwickelt. Popeye und Olivia Öl sind die zwei Protagonisten. Dieser Schachzug der Autorin ermöglicht es dem Leser (Zuschauer), das ernste und auch bedrückende Sujet mit einer gewissen Distanz und mit Humor zu betrachten. Olivia, die begabte, erfolgreiche und überspannte Feministin, ist in eine ganz konventionelle Zweierbeziehung hineingeraten, und alle Versuche auszubrechen, scheitern an fehlendem Selbstwertgefühl, verkopfter Sichtweise, mangelndem Mut. Und einer (immer noch) männlich geprägten Kultur.

Negatives Gedankenkarussell

Das negative Gedankenkarussell, in dem die junge Frau sich immer wieder verliert, deckt Sivan Ben Yishai in ihrem Text, in dem die Worte wie Gefühlswallungen fließen, scharfsichtig und analytisch auf. Rollenzuweisungen, Verhaltensmuster werden hinterfragt. Regisseur Jakob Weiss, der mit einem blinkenden Herztunnel ein schlichtes, aber sehr eindringliches Bühnenbild geschaffen hat, lässt statt einer gleich fünf Olivias auftreten, die abwechselnd einzelne Textpassagen – ineinandergreifend – sprechen. Die Schauspieler meistern die Aufgabe mit höchster Konzentration und Spiellust. Es gelingt ihnen, ganz verschiedene Frauen darzustellen. Es gibt eben nicht nur eine Olivia, sondern viele verschiedene.

Der Disposition Olivias, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinter die von Popeye zu stellen, bezieht sich auf ihren Körper und ihre Sexualität. Dabei brodelt es in ihr, wünscht sie sich gewisse erotische Erfahrungen. Das alles gipfelt irgendwann in einer Art Tagtraum der Protagonistin, in der sie sich zügellos ihrer Lust hingibt. Der Schluss ist ernüchternd: Es war nur ein Hirngespinst, die Selbstzweifel sind zurück.