Mülheim. Friedel Bialuch feiert am Donnerstag ihren 100. Geburtstag. In Ostpreußen hatte ihr Leben begonnen – die Kriegswirren brachten sie nach Mülheim.

Ihr erster Gang am Morgen führt Friedel Bialuch zum Postkasten. Die Neugier treibt sie: Was tut sich in Mülheim? Was schreibt die Zeitung? Dass es aus ihrer Wohnung in der zweiten Etage exakt 37 Steinstufen hinunter sind und dann auch wieder hinauf, stört sie wenig. „Ich sage eigentlich auf jeder Stufe Danke.“ Nicht mal ins Schnaufen gerät Friedel Bialuch, und das ist durchaus bemerkenswert. Die Mülheimerin wird am Donnerstag 100 Jahre alt.

Auch auf die Augen ist noch Verlass; die Jubilarin braucht nicht mal eine Brille zum Lesen. Seit über 50 Jahren gehört die Zeitung zu ihrer täglichen Lektüre. Und sie verschlingt nach wie vor Bücher, greift immer mal wieder in ihr Regal, wo auch ein dicker Band über Ostpreußen steht.

Aufgewachsen in der Kleinstadt Goldap in Ostpreußen

Dort, genauer in Goldap, kam Friedel Bialuch am 6. August 1920 zur Welt. Rund 12.000 Menschen lebten damals in der – heute polnischen – Kleinstadt. Das Mädchen wuchs mit zwei Brüdern und zwei Schwestern auf. Der Vater arbeitete bei einem Kaufmann, kümmerte sich um die Pferde der Bauern, die einmal wöchentlich vom Land in die Stadt kamen, um ihre Geschäfte zu erledigen. „Meine Mutter hatte den großen Haushalt zu versorgen.“ Eine Herausforderung, „schon allein, wenn man an die Wäsche von so vielen Menschen denkt“. Eine Waschmaschine habe es natürlich nicht gegeben; „da wurde noch fleißig mit dem Rubbelbrett gearbeitet“.

Viel Zeit für die Kinder sei nicht geblieben, die Großmutter aber, die war da. „Ich habe mit einem Stühlchen zu ihren Füßen gesessen und ihr zugehört.“ Fast immer begann die Unterhaltung auf Plattdeutsch mit der Frage „Wat soll ick dir denn vertelle?“. Und die kleine Friedel wünschte sich Geschichten aus Omas Jugend.

Die Großmutter erzählte vom Johannisfeuer

Sie lauschte genau. Zum Beispiel, wenn die Großmutter mal wieder vom Johannisfeuer erzählte, „bei dem die Burschen über das Feuer gesprungen und die Mädchen drum herum getanzt sind“. Mit der Zeit kannte das Kind fast jede Episode aus lang vergangener Zeit. „Und ich habe sofort gemerkt, wenn sie mal etwas anders erzählt hat.“ Die Ungenauigkeiten rieb die Enkelin ihrer geliebten Großmutter gern unter die Nase.

Das alles ist ewig her, die Erinnerung zum Teil verblasst. Nach dem Besuch der Volksschule – „schon damals war Lesen mein Lieblingsfach“ – absolvierte Friedel Bialuch eine kaufmännische Lehre in einem Elektrogeschäft. Dass sie mit Büroarbeit vertraut war, hatte Folgen für die Jahre im Krieg: „Ich erhielt eine Einberufung zur Heeresmunitionsanstalt Stablack.“ Munition wurde dort hergestellt, doch auch Fähigkeiten am Schreibtisch waren gefragt. „Und beworben hätte sich dort niemand. Die mussten sich die Leute schon holen, ganz wie beim Militär.“

Nach der Flucht traf sich die Familie im Ruhrgebiet wieder

Getrennt von der Familie, lebte Friedel Bialuch für die nächsten Jahre in einem Lager. 1945 dann, „als die Russen immer näher kamen“, wurde dieses aufgelöst und es gab nur noch einen (Aus-)Weg: den Richtung Westen. Niemand habe gewusst, wohin man gehen kann, wenn die Heimat nicht mehr existiert. Es sei ein heilloses Chaos gewesen. Zum Glück war eine Freundin an ihrer Seite. Und eine entfernte Verwandte in Mülheim an der Ruhr kam ihr in den Sinn. Sie schlug sich durch – und traf im Ruhrgebiet tatsächlich ihre Familie wieder. Die geliebte Großmutter allerdings war auf der Flucht gestorben.

Ehemann starb früh an einem Herzinfarkt

„Einsamkeit kenne ich nicht“, sagt Friedel Bialuch deutlich. Dabei ist ihr Mann schon lang nicht mehr an ihrer Seite.

1978 starb Heinz an einem Herzinfarkt. Für seine Frau war auch der Krieg daran Schuld, „er war in Kriegsgefangenschaft, da ging es ihm schlecht“.

Auch ihr jüngster Bruder Siegfried war in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen und zuvor in Stalingrad. Und auch er wurde nicht alt.

Die Anfangsjahre waren „schrecklich“, nur langsam ging es in der neuen Heimat bergauf. Friedel Bialuch heiratete Heinz, einen Autoschlosser, der auch aus Ostpreußen stammte. Sie lebten in Essen-Karnap, zogen Anfang der 1970er nach Mülheim. Bis zur Rente war sie bei der Mülheimer Firma Stelcon beschäftigt. Und noch heute wohnt die ältere Dame am Dichterviertel, mit ein wenig Hilfe von Freunden bewältigt sie den Alltag selbstständig.

Die Nichte war wie eine eigene Tochter

Besuch kommt nicht mehr so oft; doch von Zeit zu Zeit schaut die heute in Österreich lebende Tochter ihrer jüngeren Schwester Elly vorbei. Friedel Bialuch war „wie eine zweite Mama“ für Monika Gritsch. Die Nichte kam mit auf Reisen, nach Italien, Norwegen, kreuz und quer durch Deutschland, verbrachte auch in Mülheim viel Zeit mit Tante und Onkel.

Wichtig war für Friedel Bialuch in all den Jahren auch die Evangelische Freikirche an der Auerstraße, wo sie noch heute Gottesdienste besucht. Was an ihrem Ehrentag passiert, hat Nichte Monika geheim gehalten. Für die Jubilarin ist der Hundertste „ein Geburtstag wie jeder andere“. Die 37 Treppenstufen jedenfalls wird sie in der ihr üblichen Leichtigkeit hinabsteigen und sich dann auf die Dinge freuen, die vor der Haustür auf sie warten.