Mülheim. 578 Mülheimer evangelischen Glaubens haben der Kirche den Rücken gekehrt, zudem 567 Katholiken. Der Missbrauchsskandal könnte ein Grund sein.
Für die Kirchen in Mülheim war 2019 ein schwarzes Jahr. Sowohl das Bistum Essen als auch der Kirchenkreis An der Ruhr verzeichneten deutlich erhöhte Austritte. Der massenhafte Exodus ist kein regionales, sondern ein deutschlandweites Problem: Deutlich mehr als eine halbe Million Menschen ist 2019 aus der katholischen und der evangelischen Kirche ausgetreten.
Vor allem in der anhaltenden Diskussion über den Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen erkennt Generalvikar Klaus Pfeffer einen Grund dafür, dass im Ruhrbistum 7216 Katholiken (nach 5526 in 2018) ausgetreten sind. „Es ist bitter zu sehen, dass es uns bisher nicht hinreichend gelingt, die Aufarbeitung der unsäglichen Missbrauchstaten entschieden und überzeugend voranzutreiben, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen“, sagt Pfeffer.
567 Mülheimer haben katholischer Kirche den Rücken gekehrt
Die Zahl der Katholiken im Bistum ist um 15.811 auf knapp 740.000 zurückgegangen, zeigt die Statistik. Im Stadtdekanat Mülheim gab es Ende des Jahres noch 45.770 Mitglieder; vor Ort haben 567 Menschen der Kirche den Rücken gekehrt. Seit Gründung des Ruhrbistums vor mehr als 60 Jahren hat sich die Mitgliederzahl damit halbiert.
Pfeffer sieht nicht nur im Missbrauchsskandal eine Erklärung: „Das, was wir den Menschen von unserem Glauben erzählen, muss mit ihrem konkreten Leben zu tun haben.“ Gerade in der Corona-Krise hätte manche Gemeinde „sehr wach auf die Sorgen der Menschen in ihrer Nachbarschaft geschaut und mit tollen Aktionen reagiert, sei es mit Online-Gottesdiensten, einem offenen Ohr am Telefon oder Hilfe beim Einkaufen“. In einer Krise, die alle Pläne plötzlich in Frage stellt, zeige sich die Bedeutung eines religiösen Fundaments, das Halt geben könne.
Mitgliederschwund verschlimmert finanzielle Situation
Pfeffer sieht mit Sorge, dass vor allem junge Erwachsene austreten: „Wir müssen den Dialog mit ihnen suchen, damit wir verstehen, was anders werden sollte.“ Der Mitgliederschwund verschlimmere die finanzielle Situation des ohnehin kaum mit Rücklagen gesegneten Bistums. Und man stelle sich auf weitere Geldnöte ein: „Unser Ringen um die Frage, welche Aufgaben und Projekte für uns als Kirche wirklich wichtig sind, wird nicht weniger werden.“
Austrittstrend auch in der evangelischen Kirche
Annika Lante, Pressesprecherin des Kirchenkreises An der Ruhr, bestätigt „den bundesweiten Austrittstrend“. Auch in der evangelischen Kirche seien die Zahlen 2019 erkennbar zurückgegangen: 578 Menschen sind allein in der Ruhrstadt aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Die Gesamtzahl der Gläubigen habe damit Anfang 2020 nur noch bei 43.848 gelegen. In den Jahren zuvor hätten die Austrittszahlen niemals die 400er-Grenze überschritten.
Negativtrend in vielen Bereichen
Nachdenklich machen noch andere Zahlen des Ruhrbistums: Mit 986 Paaren ließen sich rund 200 Paare weniger trauen als 2018.
Und auch bei den katholischen Bestattungen setzt sich der Negativtrend fort: Nach 8776 Bestattungen in 2018 gab es 2019 noch 8140 Beisetzungen.
Ein Wert, der vor allem eine Veränderung in der Trauerkultur in den Gemeinden beschreibt, heißt es.
„Die Entwicklung ist schmerzhaft“, sagt Lante – und natürlich sei man auf der Suche nach Gründen. Grundsätzlich sei es wohl ein sozialer Trend, dass große Organisationen wie auch Parteien oder Gewerkschaften „keine allzu große Bindungskraft mehr“ hätten.
Heute eher Mitglied aus Überzeugung statt aus sozialer Konvention
„Heute ist man auch eher Kirchenmitglied aus Überzeugung statt aus sozialer Konvention.“ Früher habe man eine Zugehörigkeit kaum hinterfragt, die Familientradition einfach fortgesetzt. Waren die Eltern in der Kirche, blieb man es selbst auch. Das sei längst nicht mehr so. Laut Lante weiß man aber nicht abschließend, was hinter der Austrittswelle steckt. „Wir können nur interpretieren.“
Die Kirche jedenfalls sei dabei, sich weiter zu verändern, sich zu öffnen. Eine langfristige Bindung sei nicht mehr das vorrangige Ziel. Durch spannende Veranstaltungsreihen wolle man auch „eine Kirche zum Reinschnuppern“ werden. Und immer mehr auf die Jugend setzen: „In Mülheim haben wir schon sehr rege ehrenamtliche junge Menschen.“ Auf der nächsten Synode wolle man überlegen, wie sich weitere Jugendliche gewinnen lassen und wie diese sich stärker einbringen können.