Mülheim. Eigentlich hätte das Theaterkollektiv KGI längst seine neue Oper „Sieg über die Sonne“ im Ringlokschuppen gezeigt. Jetzt wird daraus ein Film.
Maria Vogt klebt flamingofarbende Schaumstofffiguren auf dem Pflaster vor dem Ringlokschuppen. Grell hebt sich die Kunstlandschaft gegen den grauen Stein ab. Futuristisch. Denn längst hätte die Kulisse für das neue Oper-Theaterstück „Sieg über die Sonne“ Mitte Juni fertig sein sollen. Doch Corona drückte bei Vogt und dem ambitionierten Theaterkollektiv KGI die Pausetaste. Drei Jahre Planung dahin?
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Was macht die freie Szene, wenn die Krise zuschlägt? Eigentlich nichts anderes, was sie sonst auch tut. Sie wird kreativ. Eine Live-Oper mit schmetternden Sängern und tosenden Posaunen wäre aktuell schon aus Abstandsgründen unmöglich gewesen. „Aerosole – sechs Meter Abstand“, zeigt Vogt mit einer langen Armbewegung in den Raum.
Die Darsteller bewegen heute nur die Lippen
Dann machen wir eben Film, meint Simon Kubisch, der im Kollektiv mit die Regie führt. Und so steht an diesem Donnerstagmittag im publikumslosen Saal ein Teil der Bühne, rollt ein Dolly – der Kamerawagen – entlang einer weißen Winterkulisse, sind die Tontechniker am Start, um zu den Szenen die Musik und den Gesang abzufahren.
Denn die Darsteller bewegen heute nur die Lippen. Eingespielt wurden Stimme und Ton bereits vor einiger Zeit mit den Profis aus dem Musiktheater Gelsenkirchen, mit denen das KGI für „Sieg über die Sonne“ kooperiert. Wie ist es, wenn man statt in einer linearen Aufführung nun in geschnipselten Szenen und etwa 300 Kameraeinstellungen denken muss?
Inszenierung in Mülheims Innenstadt rief 2017 die Polizei auf den Plan
Das ist das Theaterkollektiv KGI
Das „interdisziplinäre Büro für nicht übertragbare Angelegenheiten KGI“ gründete sich 2013 aus Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, des Regiezweigs der HfS Ernst-Busch Berlin und der Hochschule für bildende Künste Hamburg.
„Die Gruppe versucht, unterschiedliche emanzipatorisch-politische und ästhetische Positionen auszuhandeln und für ein egalitäres Theater der kommenden Gemeinschaft fruchtbar zu machen“, heißt es in der Selbstdarstellung des Kollektivs. KGI will solides Bühnenhandwerk und fundierte Theorie mit klarer politischer Haltung vereinen. Im Zentrum der Arbeit steht die Aneignung und Transformation unterschiedlicher darstellender und performativer Kunstformate von Theater, Film, Tanz bis hin zur Oper.
Seit 2012 arbeitet das KGI unter anderem mit dem Mülheimer Ringlokschuppen, dem Theater Oberhausen und dem Maxim Gorki Theater in Berlin zusammen. Seit 2018 wird KGI unter dem Motto „Das Symptom der Oper“ von der Bundeskulturstiftung im Rahmen des Fonds Doppelpass Plus gefördert.
„Wir lieben eigentlich die genreübergreifende Arbeit“, meint Kubisch. Für den „grünen Kakadu“ von Arthur Schnitzler etwa löste das Kollektiv den Zuschauer- und Bühnenraum auf, und inszenierte 2017 eine Szene mit 15 schwarz vermummten Darstellern in der Mülheimer City so täuschend real, dass dies die echte Polizei auf den Plan rief, um den vermeintlichen Gangstern das Handwerk zu legen. Die kuriose Sache ging natürlich ohne Festnahmen aus.
Für das neue Stück vermischt das KGI Profis und Theaterlaien. Der Kontakt zum Musiktheater in Gelsenkirchen war bereits durch das Vorläuferstück „Und jetzt alle!“ im vergangenen Jahr da. „Sieg über die Sonne“ basiert hingegen auf der futuristischen Oper von Alexei Krutschenych von 1913. Ein durchaus wildes Werk, das nicht nur damals mit surrealen Texten, unerhörten Klängen und an den Kubismus angelehnten Kulissen die Hörgewohnheiten des Opernpublikums herausforderte.
Film soll Ende Oktober fertig sein
Künstler Krutschonych schildert eine dystopische Gesellschaft aus der Perspektive eines Zeitreisenden, in der die Kraftmenschen die Sonne in ein Haus aus Beton eingeschlossen haben. „Es ist der Sieg der Kultur über die Natur. Perspektivisch hat Krutschonych vorweggenommen, was in den nachfolgenden Jahrzehnten passierte“, deutet Kubisch an.
Der Film soll bis Oktober fertig sein und dann sowohl in Gelsenkirchen als auch im Ringlokschuppen ausgestrahlt werden.