Mülheim. Seit einem Jahr leisten Mülheimer Kinderärzte Notdienst in Oberhausen. Sie finden die Bedingungen unzumutbar und sind vor Gericht gezogen.

Fast genau ein Jahr ist es her, dass der kinderärztliche Notdienst neu organisiert wurde. Seit 1. Juli 2019 sind die Mülheimer Kinderärzte mit in die Notfallpraxis am Evangelischen Krankenhaus Oberhausen (EKO) eingebunden. Sie hatten sich lange dagegen gewehrt und tun es weiterhin: Das Sozialgericht Düsseldorf ist eingeschaltet, die Kinderärzte wollen auf juristischem Wege Verbesserungen erzwingen.

Mülheimer Kinderarzt: Wurde mit heißer Nadel gestrickt

„Das größte Problem ist, dass alles mit heißer Nadel gestrickt wurde“, sagt der Mülheimer Kinderarzt Dr. Martin Knorr und spricht damit für seine zehn Kollegen und Kolleginnen in der Stadt. „Es ging nur darum, uns schnell rüberzukriegen.“ So habe es bis November 2019 gedauert, ehe alle Computer richtig liefen. Die EDV funktioniere mittlerweile, sagt Knorr, vieles andere aber nicht. „Die Reinigung ist mangelhaft. Der Wartebereich bietet zu wenig Platz, wenn viele Patienten da sind.“

An den Räumlichkeiten in Oberhausen haben die Mülheimer Kinderärzte jede Menge auszusetzen.
An den Räumlichkeiten in Oberhausen haben die Mülheimer Kinderärzte jede Menge auszusetzen. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Die Mülheimer Pädiater sehen in der Notfallpraxis Probleme mit der Sicherheit, dem Datenschutz, auch mit der Hygiene, unabhängig von Corona. Alle elf haben am Sozialgericht geklagt. „Das Verfahren ist wichtig, um Veränderungen durchzusetzen“, meint Knorr. „Wir glauben, dass die Mülheimer Kinder jetzt wirklich schlechter versorgt sind.“

Ärzte glauben, dass die Mülheimer Kinder jetzt schlechter versorgt sind

Die Umstrukturierung erfolgte auf Druck der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein. Hintergrund ist das Bestreben, in NRW flächendeckend „Portalpraxen“ zu schaffen, mit ambulanter und stationärer Versorgung unter einem Dach. Auf dieses Ziel haben sich das Ge­sund­heits­mi­nis­terium, die KVen, Ärztekammern, Krankenhausgesellschaft, Apotheker­kammern und Krankenkassen zum Jahresbeginn 2019 offiziell geeinigt.

In Mülheim gibt es kein Krankenhaus mit Kinderklinik, wo eine Notfallpraxis andocken könnte. Gleichwohl wollten die örtlichen Pädiater den Notdienst hier in der Stadt behalten. Hauptargument war die Sorge, Mülheimer Eltern müssten im Notfall zu weit fahren, vielfach mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Holpriger Start in der gemeinsamen Notfallpraxis - Verbesserungen versprochen

Der Umzug erfolgte dennoch zum Juli 2019. Seitdem leisten in der Notfallpraxis am EKO die Oberhausener und Mülheimer Kinderärzte abwechselnd Dienst. Der Start war holprig. Zunächst fehlte es an einheitlicher Software, an einer Grundausstattung mit Material, einer ordentlichen Empfangsstelle für die Patienten. Die KV hatte verschiedene Nachbesserungen zugesagt.

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Am 20. September 2019 hat sich auch der Gesundheitsausschuss in Mülheim ausführlich mit der neuen Situation beim Kindernotdienst beschäftigt. Zwei KV-Vertreter standen den Politikern Rede und Antwort. Sie erläuterten die positiven Effekte, die man sich von der zentralen Lösung verspricht: deutlich erweiterte Sprechstunden, bessere medizinische Versorgung in einer Portalpraxis. Die KV-Vertreter räumten ein, dass es Anlaufschwierigkeiten gab. Die grundsätzliche Entscheidung sei aber richtig.

Praxis wegen Corona vorübergehend verlegt

Die Kindernotdienstpraxis am Evangelischen Krankenhaus in Oberhausen, Virchowstraße 20, ist täglich geöffnet: montags, dienstags, donnerstags von 19 bis 21 Uhr, mittwochs und freitags 16 bis 20 Uhr, samstags, sonntags, feiertags von 10 bis 14 Uhr und 16 bis 22 Uhr.

Wegen der Corona-Pandemie ist die Praxis seit März vorübergehend umgezogen in die Räume des SPZ, ebenfalls im EKO, Haus C, dritte Etage.

Dort soll sie aber nicht dauerhaft bleiben.

Seitdem ist ein Dreivierteljahr vergangen. Die Corona-Pandemie hat auch Folgen für die Kinder-Notfallpraxis, nämlich deren Verlegung von ebenerdigen Räumen in den dritten Stock: Dort sitzt das Sozialpädiatrische Zentrum des EKO, das momentan aber nicht wie gewohnt arbeiten kann. Die Zwischenlösung wurde eingerichtet, um etwaige Corona-Verdachtsfälle bessern steuern zu können, erläutert die KV. Sie wird beendet, sobald das SPZ die Räume wieder braucht.

Pädiater finden Dienst unter den jetzigen Bedingungen unverantwortlich

So, wie die Praxis ausgestattet ist, könnten sie den Dienst dort nicht verantworten, finden die elf Mülheimer Fachärztinnen und -ärzte. Natürlich versehen sie ihn weiterhin: „Sie können ja nicht einfach streiken“, sagt Beatrix Oehmen, Rechtsanwältin aus Essen. Sie vertritt die Mülheimer Kinderärzte vor Gericht. „Alle ziehen an einem Strang“, alle haben Klagen eingereicht.

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Zunächst hatten sie kollektiv Widerspruch eingelegt gegen den Bescheid der KVNO, sie zum neu strukturierten Notdienst heranzuziehen. Die KV habe aber sofortige Vollziehung angeordnet. Die Ärzte fahren jetzt zweigleisig: Im Zuge eines Eilverfahrens am Sozialgericht Düsseldorf wollen sie die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs wiederherstellen, zugleich soll die Angelegenheit in einem Hauptverfahren entschieden werden. Beides lässt auf sich warten.

Ortstermin in der Notfallpraxis mit einem Sozialrichter aus Düsseldorf

Immerhin: Am 18. März, kurz vor dem Lockdown, habe es einen Ortstermin in der Kindernotfallpraxis in Oberhausen gegeben, berichtet Oehmen, bei dem unter anderem ein Richter des Sozialgerichtes dabei war sowie Vertreter der KV und deren Tochtergellschaft GMG, die die Praxis betreibt.

Verschiedene Schwachstellen seien erkannt worden, so die Anwältin, beispielsweise der Container außerhalb der Praxis, der als zusätzliches Wartezimmer genutzt wird. „Wenn dort ein Kind umkippt, ist der Arzt nicht da.“ Eine Videoüberwachung könnte vielleicht Abhilfe schaffen. Ein weiteres Problem: „Es gibt in der Praxis keinen richtigen Schmutzraum, etwa zur Aufbereitung von Urinproben. Das wird dort provisorisch nebenbei erledigt, so kann man die Hygieneanforderungen nicht einhalten.“

Anwältin: „Muss denn erst etwas passieren?“

Oder der Empfangsbereich: Nach Einschätzung der Mülheimer Ärzte ist die Rezeption so eng und einsehbar, dass dort der Datenschutz verletzt werde. Der Richter habe die KV aufgefordert, Verbesserungsvorschläge zu machen, so Beatrix Oehmen. Ihr Fazit und das ihrer Mandanten laute: „Die Zustände in der EKO-Praxis sind nicht akzeptabel. Muss denn erst etwas passieren?“

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Man wisse wohl, dass man nicht gegen den landespolitischen Beschluss angehen könne, Portalpraxen einzurichten. „Aber wir wollen vernünftige Bedingungen.“ Martin Knorr, einer der klagenden Ärzte, meint: „Wir glauben, dass das Problem lösbar ist. Notfallpraxen für Erwachsene sind doch auch super ausgestattet.“

KV Nordrhein verweist auf Verbesserungen in den letzten Monaten

Die KV wehrt sich gegen die massive Kritik: „In den vergangenen Monaten wurden eine ganze Reihe von Verbesserungsmaßnahmen umgesetzt, maßgeblich auf Wunsche der Mülheimer Kinderärzte“, erklärt ein KV-Sprecher. Beispielsweise habe man medizinische Fachangestellte neu eingestellt, die bei jedem Dienst vor Ort sind, sich um Wartende kümmern und die Anmeldung beobachten. In allen Behandlungszimmern gebe ist jetzt abschließbare Schränke mit Material und Medikamenten: „Das Mitbringen von eigenem Sprechstundenbedarf ist nicht mehr nötig.“

Für kleinere diagnostische Untersuchungen sei jetzt ein CRP-Gerät vorhanden, durch das Urinproben untersucht werden können. „Die Ausstattung der Notdienstpraxis kann auch künftig erweitert werden“, verspricht die KV. „Wir befinden uns in einem regelmäßigen Austausch, um bei Bedarf weitere Veränderungen vorzunehmen.“

Stadt Mülheim kann keine Vorgaben zur Regelung der ärztlichen Versorgung machen

Bei der Stadt Mülheim ist man mit der aktuellen Situation nicht zufrieden. Zwar hatte der zuständige Dezernent Marc Buchholz bereits im September im Gesundheitsausschuss erklärt, für die Regelung der ärztlichen Versorgung sei per Gesetz die KV zuständig, „daher bestehen keine rechtlichen Möglichkeiten, dass die Stadt Vorgaben machen kann“. Buchholz hatte die KV aber um fortlaufende Informationen gebeten, ob und wie man die Situation überprüfen will.

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Nun sagte der Dezernent auf Anfrage dieser Redaktion: „Es ist bedauerlich, dass dieses Thema scheinbar weiter unbefriedigend seitens der KV bearbeitet wird.“ Man müsse aber die Entscheidung eines unabhängigen Gerichtes abwarten. Wann damit zu rechnen ist, kann derzeit niemand sagen. Rechtsanwältin Beatrix Oehmen meint: „Ich hoffe, dass in diesem Jahr zumindest über das Eilverfahren entschieden wird.“

KV: Neue Notdienst-Strukturen haben sich bisher bewährt

Die KV Nordrhein teilte mit, offensichtlich werde die Notdienstpraxis in Oberhausen gut angenommen: „Die Inanspruchnahme ist nach wie vor erfreulich hoch – vor allem auch durch die gute Zusammenarbeit mit der stationären Kinderambulanz“, so ein KV-Sprecher. „Aus unserer Sicht haben sich die neuen Strukturen des kinderärztlichen Notdienstes bisher bewährt.“