Ruhrgebiet. Selbst mit Heuschnupfen müssen Kinder zum Arzt, sollen sie weiter die Kita besuchen. Kinderärzte warnen „vorm Kollaps“ aufgrund der Attestflut.
Schniefnase, Pollenallergie, geschwächtes Immunsystem beim Zahnen – das waren bis vor kurzem Standardsituationen in Kitas. Nun sind es Fälle für den Kinderarzt. „Jedes noch so banale Bisschen wird vorgestellt aus lauter Panik“, sagt Christiane Thiele. Die Viersenerin ist Chefin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein (BVKI). Sie und auch der Landesverband Westfalen schlagen Alarm: Die Vorgaben des NRW-Familienministeriums zum Umgang mit kranken Kindern in Kitas seien nicht praktikabel.
In der neuen „Handreichung für die Kita-Betreuung“ heißt es: „Kinder dürfen generell nicht betreut werden, wenn sie Krankheitssymptome aufweisen. Die Art und Ausprägung der Krankheitssymptome sind dabei unerheblich.“ Bei einer bestätigten Coronavirus-Infektion oder bei Covid-19-Symptomen müsse vor der weiteren Kita-Betreuung ein ärztliches Attest vorgelegt werden .... Aber ist es nicht eine Selbstverständlichkeit in Corona-Zeiten, dass man sein Kind mit Erkältungssymptomen nicht in die Kita schickt?
Die Erfahrung gilt nichts mehr, ein Attest muss her
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„Ein leichter Schnupfen ist noch nicht krank“, sagt Thiele. „Kinder haben über den Winter immer einen Infekt.“ Sie und mit ihr der BVKJ im Lande findet, dass es an Praxis und Expertise vorbeigeht, wenn bei geringer Temperaturerhöhung oder einer bekannten Allergie, ein Attest hermuss. „Das können und wollen wir so nicht leisten“, heißt es in einer Erklärung der Kinder- und Jugendärzte. Die Behörden müssten umgehend ein umsetzbares Konzept vorlegen und dieses mit den Ärzten abstimmen.
„Das Thema hat viele Seiten“, erklärt Jutta Behrwind. Sie betreibt vier Kitas in Essen. Das Verfahren verursache natürlich hohe Kosten, sei ärgerlich für die Eltern und zum Teil die Ärzte. Die Regelung sei „aber auch ein Instrument, um einen hohen Arbeits- und Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Meine Mitarbeiter fühlen sich sicherer.“ Als widersprüchlich empfindet sie, dass nun Kinder massenhaft in die Praxen geschickt werden, obwohl ja gerade im Falle einer Covid-Erkrankung die Kontakt minimiert werden sollten. Aus all diesen Gründen wagt Behrwind die Prognose, „dass das nicht lange Bestand hat“.
Aber zunächst ist es tatsächlich so: Auch Behrwind schickt Kinder heim, wenn die Nase läuft und verlangt ein Attest, selbst wenn eines nur Heuschnupfen hat. „Ein Kind schnupft schon, seit wir es kennen. Aber ich muss mich an die Vorgaben halten“, sagt Behrwind. „Ich habe gar nicht die Wahl.“ Dann entwickelte das Kind noch kurz einen Husten und musste gleich nochmal zum Arzt. „Und wenn Kinder unter drei Jahren zahnen, haben sie häufig Durchfall oder Schnupfen.“ Auch da muss ein Attest her – vor Corona hätte man wohl darüber gelacht.
Die „normalen Infekte“ sind zugleich zurückgegangen
Dass so einige Kinder mit Banalitäten in die vier Mülheimer Praxen kommen, an denen er beteiligt ist, stellt auch Jürgen Hower fest. Eine Überlastung sieht er jedoch nicht. „Der Lockdown hat ja auch dazu geführt, dass normale Infekte zurückgegangen sind.“ Erst im Winter könnte es eng werden, glaubt Hower, wenn die Grippefälle zunehmen . Er sieht die Kinderärzte auf einer heiklen Gratwanderung. „Hat das Kind was oder nicht – die Frage ist berechtigt.“ Längst nicht bei jedem Kind sei ein Abstrich nötig, aber bei denen, die ohnehin eine „Multiplex-PCR“ bekommen, das Standardverfahren zur Bestimmung von Erregern, macht er nun immer den Covid-Test. In „zwei, drei Fällen“ war er auch positiv.
Auch Christiane Thiele gibt zu, dass die Situation noch nicht angespannt sei. Doch für die „Erkältungs-Hochsaison mit dem normalen Rotz und Kotz“ von Oktober bis März sieht sie die Praxen „vorm Kollaps“. „Wenn im Herbst die Rhinoviren auch noch kommen, bricht hier was zusammen.“
Drei Lösungen schlägt Thiele vor:
- Das Attest für den Arbeitgeber könnte wieder entfallen, so wie in den ersten Corona-Monaten bis Ende Mai. Dann müssten die Kinder, die zuhause bleiben, nicht zum Arzt kommen.
- „Wir brauchen mehr Sentinel-Kitas und –Schulen.“ Also solche, in denen regelmäßig Abstriche gemacht werden. „Das müsste über die Ferien erprobt und mit einer Studie überprüft werden.“
- „Eine engere Zusammenarbeit mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst ist nötig. Wenn es gewollt ist, dass mehr abgestrichen wird, muss das auch in Gesundheitsämtern gemacht werden.“
Familienminister Joachim Stamp erklärte am Mittwoch: „Eine laufende Nase hat nichts in der Kindertagesbetreuung zu suchen, damit andere nicht angesteckt werden und Infektionen sich nicht ausbreiten. Grundsätzlich werden wir daher bundesweit darüber diskutieren müssen, ob die bisherige Regelung von zehn Tagen Lohnfortzahlung für Eltern zur Betreuung erkrankter Kinder, auszuweiten ist.“