Mülheim. Seit neun Wochen sind die Kitas geschlossen. Für viele ist eine Rückkehr zur Normalität nicht absehbar. Ein Blick auf vier Familiensituationen.

Der Chef erwartet Leistung, die Wäsche stapelt sich, die Kinder quengeln: Seit nunmehr neun Wochen haben die Kitas geschlossen. Mittlerweile liegen in vielen Mülheimer Familien mit kleinen Kindern die Nerven blank. Wie lebt es sich in diesem Ausnahmezustand? Wir stellen vier Familien vor, die aus ihrem Alltag in der Corona-Krise berichten – und klare Forderungen an die Politik stellen.

Julia Buch, ein Sohn (2), alleinerziehend, arbeitssuchend

Wenn Julia Buch abends mit Rückenschmerzen auf die Couch fällt, liegt ein anstrengender Tag hinter ihr. Die 41-Jährige ist alleinerziehend und lebt mit ihrem zweijährigen Sohn Henry in Dümpten. Schon morgens macht sie sich mit ihm zum Spaziergang auf in den Wald, meist ins Hexbachtal. „Denn das Kind muss raus und braucht Bewegung“, sagt sie. Dort wird bis mittags in der Natur gespielt, dann gibt’s Essen, ein Schläfchen, danach ist Programm auf dem Spielplatz und zuhause bis abends angesagt.

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Einen Nachmittag in der Woche ist Henry bei seinem Vater, dann erledigt Julia Buch den Großeinkauf und den Haushalt. Die Verantwortung nur für wenige Stunden am Tag abzugeben und auch mal etwas Zeit für sich zu haben – das würde gut tun. Wird wohl aber auch in den kommenden Wochen nicht möglich sein.

Julia Buch ist alleine für ihren zweijährigen Sohn Henry verantwortlich.
Julia Buch ist alleine für ihren zweijährigen Sohn Henry verantwortlich. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Henry war bereits seit Sommer vergangenen Jahres in Betreuung bei einer Tagesmutter, ab September sollte er eigentlich in eine Kita wechseln. „Ob die Eingewöhnung stattfinden kann, ist aber noch offen“, sagt Julia Buch. Sie habe große Sorge: „Was ist, wenn er Trost braucht, die Erzieherin ihn aber nicht auf den Arm nehmen darf?“

Von der Politik fühle sie sich als Mutter alleingelassen. „Als wenn alle Kinder die Seuche in sich tragen würden.“ Anspruch auf Notbetreuung hat Julia Buch als Arbeitssuchende nicht. Daher würde sie sich mehr Hilfe aus der Politik für alleinerziehende Mütter und Väter wünschen. „Was, wenn ich einen Bandscheibenvorfall hätte? Dann würde keine Hilfsmaßnahme greifen, stünde ich völlig alleine da.“

Familie Tuna, zwei Kinder (5,1), Vollzeit berufstätig

Für Familie Tuna waren die vergangenen Wochen „anstrengend“, sagt Mutter Tülay, die mit ihrem Mann Yalcin und den beiden Kindern Emir (5) und Ela (anderthalb) in Dümpten lebt. Sie und ihr Mann sind beide voll berufstätig in einem Industrie-Betrieb beschäftigt, in dem die Heimarbeit nicht möglich ist. Emir ist Vorschulkind und darf voraussichtlich ab dem 28. Mai wieder in die Kita, Tochter Ela wird wohl erst nach den Sommerferien wieder in den Kindergarten gehen dürfen – „dann fangen wir mit der Eingewöhnung von vorne an“, befürchtet Mutter Tülay.

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Ohne die Hilfe der Großmutter, die regelmäßig auf die Kleinen aufpasst, hätten die Eltern in den vergangenen Wochen kaum arbeiten können. „Wir haben bereits alle Überstunden sowie den Sonderurlaub abgebaut und mussten unsere zweiwöchige Urlaubsreise im Juni stornieren.“ Sind diese 14 Tage Urlaub auch aufgebraucht, müssen die Eltern sich freistellen lassen – und bekommen dann nur noch 67 Prozent ihres Lohnes. Die Fixkosten für Haus, Auto, Lebensmittel laufen weiter.

Vorfreude auf die Schule kommt nicht auf

„Wir als Eltern werden total im Stich gelassen“, findet Tülay Tuna. Jeder Unternehmer bekomme finanzielle Hilfe, Eltern die sich zwischen Job und Kinderbetreuung aufreiben, würden allein gelassen. „Ein einfaches ,Dankeschön’ hilft uns auch nicht weiter.“ Zumal die Kinder unter der Situation leiden. Im Kindergarten wurden für die Vorschulkinder alle Veranstaltungen und Abschiedsausflüge abgesagt. „Das ist so traurig für Emir.“

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Auch der erste Schultornister steht in der Ecke, „richtige Vorfreude auf die Einschulung kommt bei meinem Sohn nicht auf“. Schließlich sei immer noch nicht klar, ob und wie die Schule für die i-Dötzchen nach den Ferien überhaupt startet. Zumindest habe die Familie in ihrer Dümptener Wohnsiedlung eine lebendige Nachbarschaft mit vielen Kindern, die nun auch wieder gemeinsam auf der Straße spielen dürfen. Die Hygieneregeln haben sie mittlerweile gut verinnerlicht, weiß die Mutter. „Sie singen gemeinsam Corona-Lieder und spielen Abstandhalten.“

Familie Kempen, drei Kinder (2,5,6), Vater berufstätig

Schon ohne Corona ist der Alltag der Familie Kempen ein trubeliger. Drei Kinder wuseln durch das Haus von Tanja und Andreas Kempen in Styrum: der zweieinhalbjährige Julian, die fünfjährige Lisa und die sechseinhalbjährige Emelie. Normalerweise sind alle drei am Vormittag in der Kita, Tanja Kempen hat ein bisschen Ruhe für den Haushalt und sich selbst, bis sie die drei am frühen Nachmittag abholt. Das ist seit Wochen vorbei.

Tanja und Andreas Kempen leben mit ihren drei Kindern Julian (2), Lisa (5) und Emelie (6) in Styrum.
Tanja und Andreas Kempen leben mit ihren drei Kindern Julian (2), Lisa (5) und Emelie (6) in Styrum. © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

„Die Situation ist einfach blöd“, sagt Tanja Kempen. „Tagsüber ist es sehr anstrengend.“ Weil Julian sehr lebhaft und wild sei, bleibe oft keine Zeit, sich Ruhe für die älteren Schwestern zu nehmen – nur wenn der Kleine schläft. Die dreifache Mutter ist Altenpflegerin, hat sich aber entschieden, ihre Elternzeit zu verlängern. Ihr Mann arbeitet Vollzeit, geht auch in Corona-Zeiten um 7.30 Uhr aus dem Haus, kommt nicht vor halb sechs am Abend wieder.

„Die Kinder sind unausgeglichen und knatschig“

Die ersten drei, vier Wochen seien „super“ gewesen, Tanja Kempen habe es genossen, so viel Zeit mit den Kindern zu verbringen. Doch seit einiger Zeit sei der Schalter gekippt. „Die Kinder sind unausgeglichen und knatschig. Ihnen fehlt der Alltag.“

Froh ist sie, dass die Spielplätze wieder geöffnet haben. Vorher ist Tanja Kempen gerne auf dem Parkplatz der Uni spazieren gegangen – und sei dabei nicht selten angefeindet worden. „Viele Leute haben mich von der Seite blöd angemacht: Die Kinder müssen zu Hause bleiben.“ Einmal habe eine Frau sogar das Ordnungsamt anrufen wollen.

Die sechsjährige Emelie darf nun bald wieder in die Kita, bevor sie nach den Sommerferien eingeschult wird. Angst, dass sie sich dort anstecken könnte, hat Tanja Kempen kaum. „So große Sorgen mache ich mir da nicht. Man kann sich überall anstecken.“

Familie Albayrak, zwei Kinder (3,5), beide Eltern berufstätig

Bilge Albayrak hat wenig Verständnis für die monatelange Schließung der Kindergärten. Die 36-Jährige ist Kinderärztin am Uni-Klinikum in Essen und hat selbst zwei Töchter: die dreijährige Ida und die fünfjährige Nila. Bilge Albayrak betrachtet die Situation aus zwei Perspektiven – als Mutter und als Medizinerin.

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„Die Daten, die wir bis jetzt haben, zeigen, dass Kinder unter zehn Jahren eine untergeordnete Rolle im Infektionsgeschehen haben“, sagt Albayrak. Sie seien seltener von der Krankheit betroffen, scheinen sie kaum weiterzutragen. Viele Maßnahmen würden auf Influenza-Pandemieplänen beruhen – und hätten sich mittlerweile überholt.

„Kinder haben keine ökonomische Macht“

Nurettin und Bilge Albayrak mit ihren Töchtern Ida (3) und Nila (5). Die Mädchen gehen beide in die Notbetreuung.
Nurettin und Bilge Albayrak mit ihren Töchtern Ida (3) und Nila (5). Die Mädchen gehen beide in die Notbetreuung. © FUNKE FotoServices | Kerstin Bögeholz

„Am Anfang waren die Maßnahmen richtig, weil man so wenig wusste“, sagt Bilge Albayrak. Aber das habe sich geändert. Dass die Interessen der Kinder nicht im Vordergrund stehen, liege daran, dass sie keine ökonomische Macht haben, nur eine untergeordnete Rolle spielen. Kritisch sieht sie auch die „Pseudo-Hygienemaßnahmen“ in den Kindergärten, die die Einrichtungen „unter Druck setzen“. Einzuhalten seien sie kaum, die Kinder seien verunsichert durch die Abstandsregeln.

Weil sie und ihr Mann, der Chirurg ist, in systemrelevanten Berufen arbeiten, gehen ihre beiden Töchter in die Notbetreuung, das Paar hat also weiter eine gewisse Entlastung durch den Kindergarten. Aber die engsten Freundinnen fehlen den Mädchen, ebenso wie Oma und Opa. „Viele Kinder sind sicherlich gerne zu Hause, aber sie können die Situation nicht reflektieren“, sagt die zweifache Mutter. Sie nähmen die Gegebenheiten devot hin, doch die Kinderärztin ist sich sicher: „Das löst nachhaltig etwas in den Kindern aus.“