Mülheim. Die Mülheimerin Clärenore Stinnes unternahm eine legendäre Weltreise im Auto. Im Haus der Stadtgeschichte wurde jetzt an die Pionierin erinnert.

Sie war eine Mülheimerin, die auf vier Rädern Geschichte geschrieben hat. Der Historiker Horst A. Wessel, vormals Leiter des Mannesmann-Archivs, erzählte jetzt im Haus der Stadtgeschichte die Lebensreise der Industriellentochter Clärenore Stinnes. Sie fuhr in 25 Monaten mit ihrem Auto um die Welt.

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Der Vortrag, den Wessel zum Auftakt der Reihe zur Mülheimer Geschichte hielt, war, wie es der Gastgeber und kommissarische Leiter des Stadtarchivs, Jens Roepstorff, zu Recht formulierte, „tolles Kopfkino“ und ein „guter Nachschlag zum Weltfrauentag am 8. März“.

Privilegierte Industriellentochter stößt an Grenzen ihrer Zeit

Wessel machte deutlich, dass die am 21. Januar 1901 als Tochter des Industriellen Hugo Stinnes in Mülheim geborene Clärenore Stinnes finanziell privilegiert war und dennoch als Frau ihrer Zeit an Grenzen stieß, die sie als erfolgreiche Rennfahrerin und Weltreisende in ihrem Adler Standard 6 zu überfahren suchte. Der Historiker erinnerte daran, dass Frauen, trotz ihrer verfassungsrechtlichen Gleichstellung in Deutschland, noch bis 1976 auf die Zustimmung ihres Ehemanns angewiesen waren, wenn sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben oder ein Bankkonto eröffnen wollten.

Clärenore Stinnes auf Tour: Dieses Foto entstand 1927 in Nowosibirsk.
Clärenore Stinnes auf Tour: Dieses Foto entstand 1927 in Nowosibirsk. © Illustrierte der Mülheimer Zeitung/Stadtarchiv

Obwohl Clärenore Stinnes nach einem guten Abitur an der Luisenschule als Sekretärin und Vertraute in der Geschäftsführung dem Weltkonzerns mit Freude und Erfolg zuarbeitete, und fließend Englisch, Französisch und Spanisch sprach, ließen ihre Mutter und ihre Brüder nach dem Tod des Vaters im Jahr 1924 ihren Einstieg in die Firmenleitung nicht zu. Diese Zurückweisung motivierte die begeisterte Automobilistin, die schon als Mädchen gerne mit Autos und Motorteilen spielte und bereits mit 18 Jahren ihren Führerschein machte, ihrer Familie und der Gesellschaft am Lenkrad und auf vier Rädern zu beweisen, was in ihr steckte.

„Amazone auf Gummi“ gewann internationale Autorennen

In den drei Jahren vor ihrer Weltumfahrung, die sie am 25. Mai 1927 in Frankfurt am Main startete, gewann Clärenore Stinnes 17 nationale und internationale Autorennen. Deshalb bezeichnete sie die Mülheimer Zeitung in einem Bericht als „unsere Amazone auf Gummi“.

Nach ihrem Sieg bei der Russland-Rallye 1925, so Wessel, habe sie den Plan einer Autoreise um die Welt gefasst. „Doch ihre Familie wollte ihr das Geld dafür nicht geben. Deshalb wandte sich Clärenore Stinnes an die Adler-Auto-Werke, an Bosch, Varta und Continental und gewann die Autohersteller und ihre Zulieferer als Sponsoren für ihr werbeträchtiges Abenteuer, das sie 49.000 Kilometer weit durch 32 Länder Europas, Asiens sowie Nord- und Südamerikas führen sollte“, erzählte Wessel.

Fotograf an ihrer Seite bewährte sich auch als Mechaniker

Er berichtete auch, wie Clärenore Stinnes den schwedischen Fotografen und Filmemacher Axel Söderström als Reisebegleiter gewann. Obwohl er nur für die presse- und filmtechnische Dokumentation der Autoweltreise engagiert worden war, bewährte er sich während des zum Teil lebensgefährlichen automobilen Marathons auch als Mechaniker an der Seite von Clärenore Stinnes, die er nach seiner Scheidung im Dezember 1930 heiraten sollte.

Häufig zu Gast in Mülheim

Die Auto-Weltreise von Clärenore Stinnes und Axel Söderström wurde in einem Foto-Tagebuch, das im Stadtarchiv an der Von-Graefe-Straße 37 einsehbar ist, und in einem Kinofilm 1931 dokumentiert.

Filmdokumentationen rund um die Weltumfahrung finden sich auch auf Youtube. Lesenswert ist auch der 2001 erschienene biografische Roman von Michael Winter: „Pferdestärken – Die Lebensliebe der Clärenore Stinnes“.

Clärenore Stinnes lebte mit ihrem Ehemann und drei Kindern auf einem Gut ihres Vaters in Süd-Schweden. Dennoch besuchten sie regelmäßig Mülheim, wo Clärenores Mutter Cläre bis 1973 im Haus Rott lebte.

Auch zu ihrem 80. Geburtstag kam Clärenore Stinnes 1981 nach Mülheim und sagte damals, auf dem Höhepunkt des Rüstungswettlaufes der Supermächte: „Ich würde noch einmal um die Welt fahren, wenn ich damit Amerikaner und Sowjets an einen Tisch bringen und zum Frieden bewegen könnte.“

Am 7. September 1990 ist Clärenore Stinnes in ihrer schwedischen Wahlheimat gestorben.

Wessel würzte seinen kurzweiligen Vortrag mit Anekdoten, wie der über die räuberischen Reiter in der Mongolei, die Clärenore Stinnes, mit ihrem Gewehr und 2800 Schuss Munition auf Distanz hielt, während ihr Gefährte die Federung ihres Wagens reparierte. Stinnes, die ihren Adler 6 Standard auch über das krachende Eis des zugefrorenen Baikalsees steuerte, wurde während ihrer abenteuerlichen und schlagzeilenträchtigen Auto-Weltreise auch von Stalin, Kemal Atatürk und US-Präsident Herbert Hoover empfangen.

Drei Abendkleider und drei Pistolen im Reisegepäck

Ihre drei Abendkleider, die ebenso wie drei Pistolen zu ihrem Reisegepäck gehörten, konnte Clärenore Stinnes bei den Bällen nutzen, die der damalige Bürgermeister von New York für sie gab. Wer die Auto-Pionierin auf Fotos am Steuer ihres Wagens sieht, versteht, was ein von Wessel zitierter Journalist ihrer Zeit meinte, als er über die Mülheimerin schrieb: „Wer ihr in die Augen schaut, der sieht sofort, dass sie keinen Widerspruch duldet und erreicht, was sie sich vorgenommen hat!“

Alles ist natürlich relativ. Eine Ironie der Geschichte ist, dass die Frau, die auf spektakuläre Weise die Welt umfuhr, auf ihrem Abiturzeugnis ausgerechnet in Erdkunde eine Fünf stehen hatte.