Mülheim. Ulrich Schreyer (60) gibt die Geschäftsführung des Mülheimer Diakoniewerks Arbeit und Kultur zum Jahresende ab. Eine Bilanz nach 24 Jahren.
Ulrich Schreyer zieht sich zum Jahresende aus der Geschäftsführung des Diakoniewerks Arbeit und Kultur zurück. Der 60-Jährige ist seit 34 Jahren für die evangelische Kirche in Mülheim tätig, davon allein 24 Jahre für das gemeinnützige Diakoniewerk an der Georgstraße 28, das Langzeitarbeitslosen eine Chance und eine Perspektive gibt.
Zum 1. Januar 2020 geht die Geschäftsführung des Diakoniewerks Arbeit und Kultur auf Nadine Soth aus Duisburg über. Nach einer Übergangszeit scheidet Schreyer zum 30. April endgültig an der Georgstraße aus. Nicht freiwillig mit erst 60 Jahren: „Mein Augenleiden macht eine verantwortungsvolle Geschäftsführung hier nicht mehr möglich“, sagt er, berichtet von acht Operationen in den vergangenen zweieinhalb Jahren. Die Geschäftsführung des Mülheimer Hospizes behält er bei, ebenso wie sein Ehrenamt als Ethikbeauftragter am Evangelischen Krankenhaus.
Seit 1986 Sozialsekretär bei der Evangelischen Kirche in Mülheim
Der gebürtige Dortmunder lernte Kaufmann und suchte nach dem sozialwissenschaftlichen Studium, Schwerpunkt Arbeitswelt, neue Aufgaben. Die fand er 1986 als Sozialsekretär bei der evangelischen Kirche in Mülheim, ein „Bindeglied zwischen Kirche und Welt“, wie er es beschreibt. Es gab wohl andere Optionen, darunter auch den Journalismus.
Schreyer entschied sich jedoch für Mülheim, zog mit Frau und Sohn an die Ruhr, nach Styrum, ins alte Pfarrhaus an der Albertstraße. „Ich kannte“, erinnert er sich, „anfangs in Mülheim keinen Menschen“. Das sollte sich ändern in den kommenden Jahren. Denn was mit dem kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt begann, fügte sich später immer konsequenter zu dem Thema, das Ulrich Schreyer über die Jahrzehnte begleiten sollte: Arbeit und Soziales, sozialer Arbeitsmarkt.
Mülheim sei auch in den 1980ern schon eine „geteilte“ Stadt gewesen
Schreyer kannte den Dortmunder Norden, hatte sich journalistisch mit dem Neofaschismus dort beschäftigt, Mülheim, die sympathische Stadt an der Ruhr (mit damals noch ausgeglichenem Haushalt), kam ihm dagegen zutiefst bürgerlich vor. Was er durchaus positiv meint: Die Schloßstraße, zum Beispiel, erinnert er sich, „war ein Modellbeispiel in Deutschland für viele andere Mittelstädte“. Branchenmix, ein gewisses, Flair, Cafés und Eisdielen. Und der Weihnachtmarkt stand damals noch auf der ganzen Schloßstraße.
Zunehmende Erwerbslosigkeit war in den 1980ern aber auch in Mülheim ein großes Thema. Obwohl die Zahl mit 7700 arbeitslosen Männern und Frauen geringer war als heute, wenn man die Unterbeschäftigung herausrechnet. Aber Mülheim, so Schreyer, sei auch damals schon eine „geteilte“ Stadt gewesen. „Es gab immer schon Bereiche, etwa im Styrumer Norden, wo die Arbeitslosenzahlen höher waren und damit vergleichbar mit anderen Regionen.“
„Alle waren sich aber damals einig: Gegen Arbeitslosigkeit muss etwas getan werden“, erinnert sich Schreyer. Dem Mülheimer Arbeitslosenzentrum, in dessen Trägerverein sich alle Parteien gegen Arbeitslosigkeit einsetzten, stand er als ehrenamtlicher Geschäftsführer vor. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, ABM, Arbeit statt Sozialhilfe waren die Schlagworte der 80er. „Viele haben mit ABM angefangen und später Karriere gemacht“, so Schreyer.
Soziale Probleme wurden zu lange ignoriert
Ulrich Schreyer schätzt, dass die beginnende Spaltung der Stadt einfach zu spät aufgefallen ist, als Arbeitsplätze wegfielen in der Industrie, im Handel. „Die Spannbreite ist heute enorm. Wir haben viele Gutsituierte, aber auch einen großen Anteil an Menschen, die subventioniert leben. Und mit 30 Prozent ist die Kinderarmut bei uns höher als im Bundesschnitt.“ Man habe die Veränderung, die sozialen Probleme zu lange ignoriert, sagt er.
Dass Arbeitslosigkeit eine Gesellschaft spalten kann, erlebte Ulrich Schreyer seit 1996, als er den Recyclinghof an der Georgstraße übernahm, das spätere Diakoniewerk Arbeit und Kultur. „24 Leute, ein alter Lkw, kein richtiges Konzept“, beschreibt er die erste schwere Zeit. Vieles war kaputt, er packte überall mit an, „sonst wäre das gar nicht gegangen“.
Im Mülheimer Diakoniewerk Arbeit und Kultur arbeiten Menschen aus 60 Nationen
Es gab keine Investitionsmittel mehr vom Bund, fast hätte er aufgegeben. Bis ihm an einem einsamen Sonntag auf dem Gelände die Idee kam, die gesammelten Sachen selbst zu verkaufen und so auch Eigenmittel zu erwirtschaften. „Wir brauchen Verkaufsfläche anstatt Büros“, so lautete der Plan. Zudem wurde ein Lokal eröffnet, „wo jeder willkommen ist“. An der Georgstraße einen Ort zu schaffen, wo jeder angenommen wird, wie er ist, das war Ulrich Schreyers Ziel. „Das ist“, bilanziert er heute, „größtenteils gelungen.
Menschen aus 60 Nationen arbeiten heute im Diakoniewerk Arbeit und Kultur. Neben den 30 festen Mitarbeitenden sind aktuell rund 240 Menschen in Maßnahmen beschäftigt. Eine Personalauswahl habe es bei den Maßnahmen von Seiten des Diakoniewerks nie gegeben – „wir nehmen die Leute an, wie sie sind“. Auch bei der Tafel werde die Bedürftigkeit nicht kontrolliert.
Hartz IV hat die soziale Landschaft verändert
Eine fundamentale Änderung der sozialen Landschaft in Deutschland sieht Ulrich Schreyer mit der Hartz-IV-Einführung. „Man hat die Menschen damit geradezu entrechtet“, sagt er. Mit der Maßnahme „Arbeit statt Sozialhilfe“ habe es zuvor noch eine tarifliche Bezahlung von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gegeben, sagt er, heute gebe es nur noch Maßnahmeteilnehmer für einen Euro zusätzlich pro Stunde zur Sozialhilfe oder zum Arbeitslosengeld 2 (Hartz IV).
Ordiniert seit September 2004
Das Diakoniewerk Arbeit und Kultur ist eine gemeinnützige GmbH an der Georgstraße 28, die im Second-Hand-Verkauf und Recycling tätig ist und auch die Mülheimer Tafel betreibt. Viele Langzeitarbeitslose hatten hier eine Aufgabe und erfuhren Wertschätzung.
Als Ulrich Schreyer 1986 Sozialsekretär der Evangelischen Kirche in Mülheim wurde, begann er zeitgleich ein berufsbegleitendes Studium der Evangelischen Theologie. Seine Ordination bekam Ulrich Schreyer im September 2004.
„Wir haben als kirchlicher Träger damals überlegt, ob wir das noch mitmachen“, sagt er. Dabei geht es ja nicht allein um das Geld. „Die Leute wollen nicht nur zu Hause herumsitzen“, weiß er. Es geht um Sozialkontakte, darum, eine Aufgabe zu haben, dazu zu gehören, um Wertschätzung, auch darum, den Kindern ein gutes Beispiel zu geben. Wenn eine Maßnahme nach einem halben Jahr ausgelaufen sei, werde er oft von den Leuten angesprochen: „Der schlimmste Satz, der mir je begegnet ist, war: ,Kann ich nicht doch wiederkommen; ich komme auch für 50 Cent’.“ Bürokratischer Irrsinn, meint er, sei das alles: „Seit 20 Jahren sage ich, wir brauchen einen sozialfinanzierten Arbeitsmarkt.“