Mülheim. Das Teilhabechancengesetz soll Langzeitarbeitslosen eine Chance am Arbeitsmarkt einräumen. In Mülheim aber halten sich Arbeitgeber zurück.

Mit dem Teilhabechancengesetz des Bundes sind finanziell so üppige Voraussetzungen für die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen gegeben wie noch nie. Doch nur wenige Mülheimer Arbeitgeber sind aktuell bereit, sich am Programm zu beteiligen und Langzeitarbeitslosen eine Perspektive zu geben.

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Der Geschäftsführer der hiesigen Agentur für Arbeit, Jürgen Koch, und die Chefin der Mülheimer Sozialagentur, Anke Schürmann-Rupp, richteten nun in einem Gespräch mit dieser Zeitung noch einmal einen deutlichen Appell an Arbeitgeber aus der freien Wirtschaft, aber auch an die Stadt, mehr möglich zu machen für Mülheimer, die schon viele Jahre darauf warten, dass ihnen jemand eine Chance gibt, sich über eine Zeit von fünf Jahren in einem Job zu bewähren.

In Mülheim bislang nur 34 Stellen bei privaten Arbeitgebern

Anke Schürmann-Rupp präsentierte nun, am Ende des ersten Jahres der Förderung, ernüchternde Zahlen. Nur 34 langzeitarbeitslose Mülheimer konnten in einen Job am ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Fünf Personen sind bei der Stadt beschäftigt, 83 bei Wohlfahrtsverbänden oder Qualifizierungsträgern.

Dabei ist die in bislang 122 Fällen bewilligte Förderung immens. Fünf Jahre lang werden jene Stellen für Hartz-IV-Bezieher, die schon sechs Jahre lang arbeitslos sind, gefördert. In den ersten zwei Jahren zahlen Arbeitgeber nicht einen einzigen Cent hinzu. In den weiteren drei Jahren sinkt die Förderung der Tariflohn-Jobs nur um je zehn Prozent, so dass Arbeitgeber auch im fünften Jahr noch 70 Prozent der Kosten erstattet bekommen. Und, so betont Agentur-Chef Koch: Es werde Tarif-, nicht nur Mindestlohn gezahlt.

Jobcenter war noch nie mit einem derart üppigen Förderprogramm ausgestattet

Jürgen Koch, Geschäftsführer der Arbeitsagentur: „Wir verlieren doch sonst immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft – und das, obwohl wir so viel Geld zur Verfügung haben.“
Jürgen Koch, Geschäftsführer der Arbeitsagentur: „Wir verlieren doch sonst immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft – und das, obwohl wir so viel Geld zur Verfügung haben.“ © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Arbeitgeber am ersten Arbeitsmarkt sollten noch einmal darüber nachdenken, ob sie nicht zusätzliche Stellen über das Förderprogramm einrichten können“, sagt Schürmann-Rupp, deren Behörde eigens für das Programm Anfang 2019 ein Bewerbercenter am Löhberg eröffnet hat. Ein flankierendes Coaching bekommen Teilnehmer vor, während und sogar nach Ende der fünfjährigen Laufzeit.

Noch nie sei das Jobcenter mit einem derart üppigen Förderprogramm ausgestattet worden, wie jetzt durch Bundesminister Hubert Heil (SPD) ermöglicht. Auch für 2020 stünden rund zwei Millionen Euro zur Verfügung. Geplant sei die Einrichtung von 150 Stellen, die der Stadt auch Entlastung bei den Sozialausgaben bringen würden.

Agentur-Geschäftsführer: „Es ist zu wenig Umsatz im Programm“

Anteil der Langzeitarbeitslosen in Mülheim besonders hoch

In Mülheim zählte die Agentur für Arbeit zum Stichtag 30. November 2961 Langzeitarbeitslose. Ein Jahr zuvor waren noch 297 Menschen mehr betroffen. Knapp 95 Prozent der Langzeitarbeitslosen werden vom Mülheimer Jobcenter betreut.

Trotz des Rückgangs im Laufe des vergangenen Jahres um 9,1 Prozent ist der Anteil der Langzeit- an allen registrierten Arbeitslosen im Städtevergleich besonders hoch. Die Quote beträgt 48,5 Prozent.

Damit belegt Mülheim laut Agentur für Arbeit in NRW einen der Spitzenplätze hinter dem Kreis Recklinghausen (49,9) und Oberhausen (48,8). Im NRW-Durchschnitt machen Langzeitarbeitslose lediglich 38,9 Prozent aller Arbeitslosen aus.

„Es ist zu wenig Umsatz im Programm“, sagt Agentur-Geschäftsführer Jürgen Koch. Im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten liege man in Mülheim (nur 70 Prozent der Mittel ausgeschöpft) und auch Oberhausen „am Ende der Tabelle“. Mülheims Jobcenter sei da kein Vorwurf zu machen, so Koch. Im Schulterschluss müssten sich vielmehr Unternehmerverband, IHK, Handwerkskammer, Arbeitsverwaltung und Stadt „die Frage stellen, wie wir mehr auf die Straße bekommen. Ein besseres Programm mit noch mehr Geld werden wir nicht bekommen.“

Koch hält die Situation gesellschaftspolitisch für „hoch brisant“. Es gehe doch um die Frage, ob man Langzeitarbeitslosen noch einmal die Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe ermögliche „oder wir sie aufgeben“. Auf diese Frage eine Antwort im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu geben, sei auch eine Aufgabe, die politisch mehr Raum einnehmen müsse in Mülheim. „Wir verlieren doch sonst immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft – und das, obwohl wir so viel Geld zur Verfügung haben.“

Joch: Arbeitgeber sollten noch einmal in sich gehen

Ob Akkutausch bei E-Scootern, das Rangieren von Fahrzeugen in einem Autohaus oder Helfertätigkeiten im Einzelhandel, etwa dass ein Buchhändler seinen Kunden einen Kaffee reichen lasse: Koch appelliert an Arbeitgeber, noch einmal in sich zu gehen, welche Jobs sie Langzeitarbeitslosen anbieten könnten.

Auch von der Stadt Mülheim als öffentlichem Arbeitgeber verspricht sich Schürmann-Rupp noch mehr Engagement. Jüngst hatte die Stadt fünf Stellen als Haushälterinnen in Kitas eingerichtet, dazu sind sechs Stellen beim Mülheimer Sportservice in der Planung.