Mülheim. Nirgendwo in NRW ist der Abwärtstrend bei der Quote der Ausbildungsbetriebe so groß wie in Mülheim. 2018 bilden 50 Betriebe weniger aus als 2017.
Eigentlich könnte die Situation optimal sein: 1251 Mülheimer bewarben sich im Ausbildungsjahr 2018/2019 auf eine Ausbildungsstelle und exakt genauso viele Ausbildungsplätze wurden von Mülheimer Betrieben angeboten. Doch was auf dem Papier sich auszugleichen scheint, tut es in der Praxis nicht: Angebot und Nachfrage in den Ausbildungsfeldern stimmen nicht immer überein.
Quote der Ausbildungsbetriebe in Mülheim mit großem Abwärtstrend
Auch interessant
Dies ist eines der drei Kernprobleme, die Jürgen Koch, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Mülheim/Oberhausen, bei der Bilanz des Ausbildungsjahres definiert. Ein anderes: Es gibt immer weniger Betriebe, die ausbilden. „2018 haben fast 50 Betriebe weniger ausgebildet als 2017“, sagt Koch. Lag die Ausbildungsbetriebsquote 2013 noch bei 21,4 Prozent ohnehin schon 2,5 Prozent unter dem NRW-Schnitt, liegt sie 2018 nur noch bei 18,7 und damit 3,5 Prozent unter der Landesquote. „Mülheim hat den größten Abwärtstrend in NRW.“
Der dritte besorgniserregende Aspekt: Die Attraktivität der dualen Ausbildung lässt „beängstigend stark“ nach, so Jürgen Koch. Zwar steigt das Angebot, doch nur 999 Verträge wurden abgeschlossen, rund 200 weniger als noch 2010. „Der gesellschaftliche Stellenwert der Ausbildung ist gesunken“, sagt Koch. Immer weniger Jugendliche hätten Lust auf eine Ausbildung und zudem driften die Anforderungen der Unternehmen und die Profile der Bewerber auseinander.
Abiturienten beginnen oft erst Ausbildung, wenn das Studium scheitert
Auch interessant
jugendliche unterschätzen den stellenwert einer ausbildungEin Trend, den auch Franz Roggemann, Geschäftsführer für Aus- und Weiterbildung der IHK in Essen, mit Besorgnis sieht: Die meisten Abiturienten gehen studieren, starteten oft erst eine Ausbildung, wenn sie an der Universität gescheitert sind.
Laut Jürgen Koch begännen nur rund zehn Prozent der Hauptschul- und Realschulabsolventen eine Ausbildung – die meisten wollen sich auf der Berufsschule weiterqualifizieren, dort ihr Fachabitur machen. „Aber sie qualifizieren sich oft runter“, gibt Roggemann zu Bedenken, „denn mit einem guten Realschulabschluss ist es leichter, eine Stelle zu finden als mit einem schlechten Fachabitur“.
Jugendlichen fehlen Einblicke in die Praxis
Nicht nur Roggemann und Koch appellieren an die Jugendlichen, sich frühestmöglich Einblicke in die Praxis zu verschaffen. Auch Elisabeth Schulte, Geschäftsführerin des Unternehmerverbands mit Sitz in Duisburg, sagt: „Es mangelt vielen an Kenntnissen, was in Unternehmen erwartet wird.“ Einen stetigen Mangel an Bewerbern gebe es zum Beispiel im elektromechanischen Bereich. „Und da wird gutes Geld verdient und Sie haben eine 35-Stunden-Woche.“ Trotzdem fänden die Betriebe keine Leute, „weil viele Jugendliche die Perspektiven nicht kennen“.
„Oftmals sind die Vorstellungen zu bestimmten Berufen diffus, Jugendliche haben keine oder kaum praktische berufliche Erfahrungen machen können“, ist eine Erfahrung, die auch Anke Schürmann-Rupp, Leitrin der Sozialagentur macht. Auch wenn das Jobcenter jeden Bewerber im vergangenen Ausbildungsjahr letztlich unterkriegen konnte (jedoch nicht alle in Ausbildung), alle akquirierten Ausbildungsstellen wurden nicht besetzt.
Weil in einigen Betrieben die Anforderungen so hoch sind, dass Jugendliche aus dem Raster fallen, liege die Aufgabe des Jobcenters darin, die Schulabsolventen so fit zu machen, dass sie die Anforderungen erfüllen.
IHK bietet Ausbildungsbotschafter an
Neben den zahlreichen Unterstützungsprogramme wie beispielsweise den ausbildungsbegleitenden Hilfen (siehe Info), gibt es auch kleinere Initiativen wie die der IHK-Ausbildungsbotschafter: Junge Azubis gehen von den Betrieben in die Schulen und zeigen auf, wie attraktiv eine Ausbildung sein kann.
„Der sinkende Stellenwert der Ausbildung ist ein bundesweiter Trend, den wir nicht aufhalten können“, sagt IHK-Ausbildungschef Franz Roggemann, „aber wir können ihm vor Ort in kleinem Maße entgegenwirken“.