Mülheim. Symposium der Mülheimer Fliedner-Stiftung zur Pflege. Experten diskutierten zur Frage: Was bringt die Zukunft für Menschen mit Hilfebedarf?
Wie kann man alten, kranken und behinderten Menschen eine gerechte und würdige Teilhabe am Leben verschaffen? Diese Frage trieb Pastor Theodor Fliedner vor 175 Jahren dazu an, die Pastoralgehülfen- und Diakonenanstalt ins Leben zu rufen. Deshalb lud die aus ihr hervorgegangene Theodor-Fliedner-Stiftung am Mittwochabend zu einem Symposium, das in der Stadthalle der Frage nachging: „Was bringt die Zukunft für Menschen mit Hilfebedarf?“
Barrierefreiheit als fest verankertes Qualitätsmerkmal in Wohnungsneubau
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, rief während des Symposium dazu auf, beim Bau sozialer Wohnungen die Bedürfnisse behinderter Menschen immer zu berücksichtigen. Weiterhin werde nur ein Teil von neugebauten Wohnungen barrierefrei und damit behindertengerecht gebaut, kritisierte Dusel. Notwendig sei dagegen, Barrierefreiheit zu einem fest verankerten Qualitätsmerkmal im Wohnungsneubau zu machen. „Nur barrierefreier Wohnraum verdient den Namen sozialer Wohnungsbau“, betonte Dusel.
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Kritik übte Dusel auch an der mangelnden Bereitschaft von Unternehmen, Menschen mit Behinderung einzustellen. Ein Viertel der Firmen, die mindestens einen Behinderten beschäftigen müssten, verzichteten darauf und zahlten lieber die dann fällige Ausgleichsabgabe, sagte er. Als Folge von zu wenig Stellenangeboten seien Menschen mit Behinderung im Schnitt häufiger und länger arbeitslos, so Dusel weiter. Er sprach sich für eine Verdoppelung der Ausgleichsabgabe aus.
Aktueller Hintergrund ist das Bundesteilhabegesetz
Den aktuellen Hintergrund der Fachvorträge und der von der Journalistin Steffi Neu moderierten Podiumsdiskussion bildete das Bundesteilhabegesetz, dessen dritte Stufe am 1. Januar 2020 in Kraft tritt. Es soll die Eingliederungshilfe effizienter machen, wird aber auch als verkapptes Spargesetz kritisiert, das für die betroffenen Hilfsempfänger und ihre gesetzlichen Betreuer einen erheblichen bürokratischen Mehraufwand mit sich bringt.
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Der Vorsitzende der Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung, Prof. Dr. Michael Seidel, warnte davor, unter dem Vorwand der Selbstbestimmung damit zu rechnen, Betreuungs- und Assistenzkosten einsparen zu können.
„Es geht um Gerechtigkeit und Verwirklichung eines Rechtsanspruchs“
Weiterer Info-Abend zum Bundesteilhabegesetz
Der für Soziales zuständige Abteilungsleiter im NRW-Sozialministerium, Udo Diel, verteidigt das Bundesteilhabegesetz und seine Landesrahmenvereinbarung. Er machte deutlich, „dass jede Gesetzgebung immer nur so gut sein kann wie die Betroffenen, die sich in diesen Entscheidungsprozess einbringen“.
Theodor-Fliedner-Stiftungsfachvorstand Claudia Ott wies darauf hin, „dass das sehr komplexe Sozialrecht niederschwelliger gestaltet werden muss, wenn die Betroffenen und ihre gesetzlichen Vertreter nicht überfordert werden sollen und wir damit riskieren, dass etwas auf die schiefe Bahn gerät und eine Unterversorgung entsteht.“
Am 12. September setzt die Theodor-Fliedner-Stiftung ihre Veranstaltungsreihe mit einem Info-Abend zum Bundesteilhabegesetz fort. Die Veranstaltung, zu der Sarah Steinfeld vom Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe erwartet wird, beginnt um 18 Uhr in der Fliedner-Betriebsstätte an der Mühlenbergsheide 23 in Selbeck.
„Das wäre lieblos“, sagte Seidel und machte am Beispiel des Krankenhausaufenthalts deutlich, dass hier eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung nur mit gezielter Assistenz für die Betroffenen zu realisieren sei. Seidel betonte: „Hier geht es nicht um einen Nachteilsausgleich, sondern um Gerechtigkeit und die Verwirklichung eines Rechtsanspruchs“.
Gerechte Teilhabe im Sinne einer nachhaltigen Politik, die den Kollaps des Pflegesystems verhindere, bestehe auch in gezielten Entlastungs- und Assistenzleistungen. Darauf wies die Gründerin und Leiterin der Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle Pflege in Not, Gabriele Tammen-Parr hin.
83 Prozent aller pflegenden Angehörigen beschreiben sich als schwer belastet
„73 Prozent aller 3,4 Millionen Pflegebedürftigen werden zuhause von Angehörigen gepflegt. Und 83 Prozent aller pflegenden Angehörigen beschreiben sich als schwer belastet. Aber nur vier Prozent entscheiden sich deshalb, ihre Angehörigen in ein Pflegeheim zu geben“, machte Tammen-Parr die gesellschaftliche Dimension des Problems deutlich. Deshalb unterstützen sie und ihr Team gezielt pflegende Angehörige und Pflegebedürftige, wenn die Überforderung in der häuslichen Pflege zu verbaler und körperlicher Gewalt führt.
„Inklusion und Demokratie sind zwei Seiten derselben Medaille. Es reicht nicht, wenn der deutsche Staat auf der Basis der UN-Behindertenrechtskonvention Recht setzt. Er muss diesen Rechtsanspruch auch in allen Lebensbereichen durchsetzen, wenn sich Menschen mit Behinderung vom Sozialstaat nicht verlassen fühlen sollen“, sagte der selbst stark sehbehinderte Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel.
Gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht
Für den theologischen Diakonievorstand Pfarrer Christian Heine-Göttelmann geht es bei der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung um nicht mehr und nicht weniger „als um die Verwirklichung der Menschlichkeit und der nicht nur durch das Grundgesetz zugesagten Menschenwürde.“
Für ihn zeigen die Bestimmungen des Bundesteilhabegesetzes aber auch, „das gut gemeint nicht immer auch gut gemacht ist und manchmal auch das Gegenteil dessen bewirkt, was politisch eigentlich gewollt war.“ Der Vorstandsvorsitzende der Theodor-Fliedner-Stiftung, Carsten Bräumer, resümierte seine wichtigste Erkenntnis aus den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen mit der Feststellung: „Inklusion ist ein Prozess, der uns alle betrifft und voranbringt, nicht nur die Menschen mit einem besonderen Hilfebedarf.“