Mülheim. Tag 1 nach der Erklärung von Cem Aydemir, den SPD-Parteivorsitz nicht mehr anzustreben: Er erntet Respekt, doch die Zukunft bleibt ungewiss.
Am Tag nach seiner Erklärung, im September nicht für den Vorsitz der von parteiinternen Querelen geplagten Mülheimer SPD zu kandidieren, herrschte nach langer Zeit zumindest vordergründig Einigkeit unter den Genossen: Cem Aydemir (42) erntete für seinen Schritt allerseits Respekt.
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Aydemir hatte am Dienstagabend während einer erst kurz zuvor einberufenen, nur für 15 Minuten angesetzten Sondersitzung des Parteivorstandes seinen Verzicht auf eine Kandidatur erklärt. Er zog damit die Konsequenz aus dem fortwährenden Streit mit jenen in Fraktion und Partei, die schon früh im vergangenen Jahr Oberbürgermeister Ulrich Scholten (SPD) aus dem Amt treiben wollten.
Aydemir hatte Rückzug auch von Fraktionschef und OB gefordert
Aydemir räumte ein, dass mit ihm an der Spitze der Partei keine Befriedung möglich erscheine. Er forderte gleichzeitig auch Fraktionschef Dieter Spliethoff, Fraktionsgeschäftsführer Claus Schindler und OB Ulrich Scholten auf, ihre Spitzenämter in Partei und Fraktion niederzulegen. Nur so sei ein glaubwürdiger Neuanfang für Mülheims Sozialdemokratie möglich.
Spliethoff und Schindler wollten Aydemirs Rücktrittsforderung am Mittwoch nicht kommentieren. Spliethoff betonte nur, dass die von ihm geführte Ratsfraktion seiner Sicht nach sehr gut inhaltlich arbeite.
Fraktionsgeschäftsführer Schindler: Aydemir fehlten die Voraussetzungen
OB Scholten, der seit vergangener Woche krank geschrieben ist, war für die Redaktion am Mittwoch nicht zu erreichen. Er lässt den SPD-Parteivorsitz bekanntlich seit dem Start der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn im September 2018 ruhen. Er hat zuletzt eine erneute Kandidatur ausgeschlossen, aber auch nicht signalisiert, von seinem Parteiamt vor dem Parteitag am 28. September zurücktreten zu wollen.
„Ich begrüße, dass Cem Aydemir zu der Erkenntnis gelangt ist, dass ihm für eine Kandidatur die Voraussetzungen fehlen“, sagte am Mittwoch Claus Schindler. Es sei „ein gutes Signal für die Mülheimer SPD, im September einen arbeitsfähigen Vorstand zu wählen, der zur Sacharbeit zurückkehrt“.
Spliethoff: „Endlich Frieden in die Hütte kriegen“
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Spliethoff zollte seinem parteiinternen Widersacher Aydemir „hohen Respekt“ für dessen „persönliche Entscheidung“. Wer nun das Zeug habe, im September als neuer Parteivorsitzender das schwierige Unterfangen anzugehen, Mülheims SPD zu befrieden, wollte Spliethoff öffentlich nicht sagen. „Ich wüssten jemanden, will aber nicht reingrätschen.“
Über die Kandidatenfrage sei in Ruhe in der Partei zu sprechen, rät Spliethoff. Bis September sei „endlich Frieden in die Hütte“ zu kriegen. Das rät seinen Genossen auch Daniel Mühlenfeld, Fraktionsmitglied und als Ortsvereinsvorsitzender der SPD Heißen-Heimaterde einer der Hardliner in der Frage, wie sich die SPD zu OB Scholten positionieren sollte. „Wir sollten erst einmal ein Stück weit zur Ruhe kommen und uns über ein Verfahren verständigen, das geeignet ist, dass sich möglichst viele mitgenommen fühlen.“
Selbst Daniel Mühlenfeld zollt Aydemir seinen Respekt
Mühlenfeld hatte den kommissarischen Parteivorstand um Cem Aydemir und (damals noch) Silvia Richter im September 2018 scharf attackiert, ihm im Streit um die OB-Affäre öffentlich die Zusammenarbeit aufgekündigt. Am Mittwoch gab er sich moderat.
„Völlig losgelöst von den persönlichen Konflikten und der fehlenden gegenseitigen Wertschätzung verdient die Entscheidung von Cem Aydemir Respekt und ist aller Ehren wert. Sie bringt zum Ausdruck, dass er sich intensiv Gedanken um die Zukunft gemacht hat und aus seiner Lageeinschätzung heraus die Forderung aufstellt, den Konflikt zu überwinden und seine persönliche Konsequenz zu ziehen.“
Noch kommt kein Kandidat für den Parteivorsitz aus der Deckung
Mühlenfeld selbst dürfte kein Kandidat für den Parteivorsitz sein, er gilt nicht als mehrheitsfähig, weil zu häufig angeeckt. Am Tag nach Aydemirs Rückzieher ging noch kein möglicher Kandidat aus der Deckung. Aydemir hatte einen Generationswechsel eingefordert. Es fielen unter anderem die Namen von Rodion Bakum, Jan Vogelsang oder Sascha Jurczyk.
Ortsverein fordert Rücktritt von Fraktionschef
Als einziger seinesgleichen gab am Mittwoch der SPD-Ortsverein Holthausen-Menden-Raadt eine Erklärung zum Rückzieher von Cem Aydemir ab.
„Respekt und Hochachtung“ sei Aydemir für seine Entscheidung zu zollen, so Ortsvereinsvorsitzender Peter Bruckhaus. Aydemir habe den ersten Schritt des Neuanfangs der Mülheimer SPD gemacht, was der Ortsverein allerdings sehr bedauere.
Nun müssten innerhalb der Fraktion Konsequenzen folgen, etwa der Rücktritt vom Fraktionsvorsitzenden Dieter Spliethoff, heißt es weiter. „Wir brauchen andere innovative Köpfe in Partei und Fraktion, Köpfe, die inhaltliche Impulse und Zeichen setzen, um das verlorene Vertrauen zur Mülheimer SPD zurückgewinnen. Die Zeit der Alleingänge nach Gutsherrenart des Fraktionsvorsitzenden und seines Fraktionsgeschäftsführers müssen ein Ende haben.“
Der Ortsverein fordert eine „Politik der Kommunikation, Integration und Transparenz“. Alle Parteigremien, auch die Ortsvereine seien einzubinden. Nur mit dem Rückenwind der Basis sei die SPD §in der Lage, in einen kommunalpolitischen Dialog mit dem Bürger und gestärkt in den Wahlkampf 2020 zu gehen“.
Vogelsang und Jurczyk waren am Mittwoch nicht zu erreichen, Bakum ließ eine Kandidatur offen, sagte aber: „Ich werde die Zukunft der Mülheimer SPD mit aller Kraft mitgestalten.“ Er sehe „den weiteren Gesprächen zum Wohle der Partei optimistisch entgegen“. Bakum gilt im parteiinternen Streit als Vertrauter von Cem Aydemir. Nicht ausgeschlossen ist, dass das andere „Lager“ bei einer Kandidatur Bakums einen Gegenkandidaten ins Spiel bringt.
Genosse: Es ist kein Kandidat mit Format vorhanden
Zu hören ist, dass vor Monaten einmal Ex-Sozialamtsleiter Klaus Konietzka als möglicher Parteichef in Rede gestanden haben soll. Das sei aber wohl, wenn überhaupt, nur eine Übergangslösung, so ein Genosse, der auch darauf hinwies, dass Konietzka der SPD womöglich nicht gut zu Gesicht stehen würde, da die Rechnungsprüfer jüngst erhebliche Unregelmäßigkeiten bei der Sozialagentur ausgemacht hatten. Zu einer Zeit, für die Konietzka in der Verwaltung Verantwortung trug.
Ein altgedienter Genosse trägt die Sorge in sich, dass der SPD aktuell ein Kandidat mit dem Format eines Gerd Müllers oder einer Dagmar Mühlenfeld fehle, die „die Stadt lebten, die Stadt formen wollten und geformt haben“. Möglichen Kandidaten einer neuen Generation mangele es zumindest aktuell noch an Vernetzung in der Stadtgesellschaft, die nötig sei, etwas zu bewegen.
Trotzdem mache es keinen Sinn, einen der alten Generation an die Parteispitze zu wählen. Leider mache sich die mittlere Generation rar, gehe es darum, in Verantwortung zu drängen.