Mülheim. . Anwalt Andreas Schmidt war Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag. Er fordert Bürger zu mehr Engagement im Sinne des Grundgesetzes auf.
Am 23. Mai 2019 wird das Grundgesetz 70 Jahre alt. Auch in Mülheim wird diesem Ereignis mit zahlreichen Veranstaltungen gedacht. Warum die deutsche Verfassung etwas ganz Besonderes ist und in vielen Teilen der Welt einen exzellenten Ruf genießt, erklärt der Mülheimer Rechtsanwalt Andreas Schmidt. Der 62-Jährige saß von 1990 bis 2009 für die CDU im Bundestag und war ab 2002 Vorsitzender des Rechtsausschusses.
Was bedeutet Ihnen die Verfassung?
Andreas Schmidt:Das Grundgesetz war die Antwort auf die Nazi-Barbarei, auf die Erfahrung der Schreckenskatastrophe. Es ist ein Schatz für die Freiheit, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit.
Ist den Menschen dieser Wert bewusst? Gehen Sie pfleglich damit um? Nein, viele leider nicht. Gehen Sie mal zu einer AfD-Veranstaltung – da merken Sie schnell: Die Rechtspopulisten haben keinerlei Gespür für diesen Schatz. Wir leben in einer Zeit, wo wir Rechtsstaatlichkeit nicht mehr zu schätzen wissen. Schauen Sie nach Ungarn oder Polen. Die hauen gerade alles in die Tonne, was wichtig ist. Die Unabhängigkeit der Justiz zum Beispiel, die wird von der Regierung dort nicht mehr für unantastbar gehalten. Das ist eine wirklich gefährliche Entwicklung. Auch was derzeit in Italien passiert, ist ein massives Problem für Europa – und damit auch für Deutschland. Es gab also schon bessere Zeiten für das Grundgesetz, mehr Wertschätzung?
Auf jeden Fall. Als Politiker bin ich in vielen Teilen der Welt gewesen, und immer wieder darauf angesprochen worden. Das Grundgesetz war immer ein Exportschlager; viele Länder haben etwas daraus übernommen.
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Die Verfassung räumt Rechte ein; inwieweit nimmt sie den Bürger auch in die Pflicht?
Die Menschen sind durch das Grundgesetz aufgerufen, sich einzubringen. Da heißt es ja zum Beispiel: ,Du darfst demonstrieren.’ Darin steckt aber auch ein ,Du sollst dich engagieren.’ Ganz klar: Es gibt nicht nur Rechte, sondern auch moralische Pflichten. Wenn ich manchmal die Nachrichten sehe und diese Dumpfbacken, dann wird mir besonders deutlich, dass wir dringend mehr von diesem Engagement brauchen.
Wann und wo spüren Sie im Alltag das Grundgesetz?
In jedem Bereich des Lebens spüre ich die Verfassung. Als Anwalt führe ich ständig Prozesse. Es ist ein Privileg, dass jeder, der sich ungerecht behandelt fühlt, zum Gericht gehen kann. Und dass da unabhängige Richter sitzen. Das ist nicht in allen Teilen der Welt so. Oder dass eine Familie aus Syrien bei der Sozialagentur Unterstützung bekommt. Das ergibt sich unmittelbar aus unserem Sozialstaatsprinzip. Oder dass hier jeder seine Meinung äußern darf, auch wenn sie jemandem vielleicht nicht passt. Es ist das tägliche Leben, in dem wir diese Freiheit spüren. Das machen wir uns nur nicht immer klar.
Gibt es weitere Beispiele, was eine Verfassung bewirken kann?
Wenn eine Verfassung stark ist, dann kann ein Land viel aushalten, sogar einen Präsidenten wie Trump. Auch der ist irgendwann Geschichte, weil die Verfassung stärker ist als er. Er ist durch die Zerrissenheit des Landes nach oben gespült worden – die Verfassung aber wird länger halten als er. Manche sprechen in Bezug auf seine Pläne zum Bau der Mauer an der Grenze zu Mexiko von Verfassungsputsch. Es ist wichtig, dass es einen unabhängigen Kongress und Senat gibt – und Gerichte, die etwas aufhalten können.
Gibt es einen Artikel in der Verfassung, der Ihnen besonders gefällt? Das ist ganz klar der zentrale Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich bezeichne ihn immer als Leuchtturm gegen die Menschenverachtung. Diesem Leitartikel ist alles andere unterworfen.
Wie können wir die Liebe zu dem Schatz wieder wecken? Über die neuen Medien, über ungewöhnliche Projekte wie das Grundgesetz als Magazin?
Ja, so etwas ist gut. Aber vor allem ist es eine Frage der Schulbildung. Wir sollten eine Bildungskampagne starten, die die Ideale und Grundgedanken der Verfassung vermittelt. Wir müssen darüber aufklären und Begeisterung dafür wecken – bei Kindern natürlich anders als bei 18-Jährigen. Das wäre der beste Beitrag gegen Intoleranz, gegen Hass und gegen Ignoranz. Das Grundgesetz nämlich ist das Gegenteil von all dem.