Ingenieur leitet schwierigsten Brückenbau seit Jahrzehnten
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Mülheim. . Der Ingenieur Ralf Grunert hat jede Menge Nerven beim Neubau der Thyssenbrücke gelassen, aber das Projekt auch vor dem Scheitern bewahrt.
„Der Druck ist jetzt weg. Ich bin wirklich erleichtert, dass wir das geschafft haben. Die Thyssenbrücke wird uns in den nächsten Jahren aber noch beschäftigen.“ Ralf Grunert, Leiter des kompliziertesten Brückenbaus der letzten Jahrzehnte in Mülheim, sitzt entspannter als vor sechs Monaten in seinem Büro im Technischen Rathaus.
Die größte Last ist von seinen Schultern gefallen. Dazu hat er „seine“ Brücke im wahren Wortsinn fast aus den Augen verloren: „Die alte Thyssenbrücke mit dem großen blauen Bogen war immer zu sehen. Die neue, schlanke Konstruktion fällt in der Stadtansicht dagegen kaum auf.“
Auffällig sind dagegen zwei dicke Aktenregale, die den Besprechungstisch flankieren: mindestens zweieinhalb Meter breit, sechs Reihen hoch und kaum noch freie Plätze. Mengenweise Ordner dokumentieren den Arbeitsaufwand und Einsatz des Bauingenieurs. Mit seinem Kollegen Holger Hullerum ist es ihm gelungen, in letzter Minute ein Projekt auf sichere Fundamente zu stellen, das im letzten Jahr zu scheitern drohte. Die Folgen wären gewesen: eine Rohbauruine, Jahre dauernder Schienen-Ersatzverkehr, Styrum fast abgehängt, Gaslieferungen mit Tankwagen für die Friedrich-Wilhelms-Hütte und sinnlose Mehrkosten.
Massive Rostschäden waren nicht mehr zu reparieren
Dieses Desaster wendet Grunert in Nerven verschleißenden Verhandlungen mit der Baufirma, der Deutschen Bahn und den Geldgebern ab. „Alle haben wir an der gleichen Brücke gearbeitet. Letztlich haben das auch alle eingesehen und beim notwendigen Schlussspurt mitgezogen. Das gute Ergebnis kann heute jeder benutzen.“
Als er mit seinen Kollegen im Sommer 2007 die alte Thyssenbrücke inspiziert, ist klar: „Wir brauchen demnächst eine neue“. Die Rostschäden kann keiner mehr reparieren. „Also haben wir das Neubauprojekt gestartet“, blickt Grunert zurück. Wie bekommt man Geld für die Vorplanung? Wie ist der neue Übergang zu verwirklichen? Was kostet das Projekt? Was sagen Deutsche Bahn AG, Mannesmann-Salzgitter und Nahverkehrsbetrieb dazu? Welche Leitungen müssen verlegt werden? Als in der Machbarkeitsstudie viele Fragen beantwortet sind, entwerfen die städtischen Brückenbauer mehrere Pläne für die Brücke. Schnell steht fest: Es wird eine Beton-Stahlträger-Konstruktion.
„Für eine neue Bogenbrücke hätten wir stärkere Fundamente benötigt. Dafür ist neben den Bahngleisen kein Platz“, sagt Grunert. Die politischen Gremien stimmen zu. Das Planfeststellungsverfahren ist im Sommer 2016 erledigt. Vier Monate später folgt der Bescheid über Zuschüsse. „Erst danach konnten wir den Neubau ausschreiben und den Auftrag vergeben.“
200 Nachforderungsanzeigen
Mit der Auftragsvergabe gibt es für Grunert und seine Kollegen kein Zurück mehr. Die Kosten sind kalkuliert, die Streckensperrungen bei der Deutschen Bahn für die Oster- und Herbstferien 2018 unverschiebbar gebucht. „Wenn sich während der Bauphase jedoch Vorschriften ändern, die Suche nach Blindgängern ausgeweitet werden muss, die Baupreise ständig steigen, dann muss man sofort reagieren und die Sache regeln“, so Grunert. Rund 200 solcher Nachforderungsanzeigen haben ihn
belastet. Darum hat ihn in der letzten Phase Holger Hullerum unterstützt.
Zum ersten Mal kommen beide Mitte März 2018 ins Schwitzen. Da ist absehbar: Die Stützwände werden nicht rechtzeitig fertig. Der Transportzug mit den Brückenträgern erreicht bald die Baustelle. Der Kran ist bestellt. Ralf Grunert kann nur noch verhandeln, dass die Baufirma mehr Leute auf die Baustelle schickt. Er durchlebt seine ersten harten Stresstage. Nach den Osterferien kommt die zweite Hiobsbotschaft: Die gerade aufgelegten Stahlträger des zweiten Abschnittes hängen über der östlichen Stützwand sieben Zentimeter in der Luft – Baustillstand. Die Nerven liegen blank.
Wieder muss Ralf Grunert im Baucontainer ringen. Inzwischen steigen die Baupreise. Das ist wiederum den Zuschussgebern zu melden. „Da können Sie nur noch nach vorne schauen, schnell einen für alle Seiten akzeptablen Vorschlag zum Weiterbauen machen. Wir hatten die Lösung“, ist der Brückenbauer im doppelten Wortsinn erleichtert: „Miteinander reden und die weitere Zusammenarbeit beschwören“, fügt Grunert hinzu.
Nach Wochen des Stillstandes packen doch alle an. „Die Leute arbeiteten in drei Schichten durch – nachts unter Flutlicht. Der Eröffnungstermin (19. September) platzt jedoch. „Wir hatten die alte Brücke bereits gesperrt, weil sie in den Herbstferien abgetragen werden musste. Es gab keinen Aufschub dafür.“ Drei Monate später ist die neue Thyssenbrücke fertig – auch ohne Einweihungsfeier.
„Bis Anfang Mai haben wir auch die Restarbeiten und Bepflanzungen erledigt“, sagt Ralf Grunert. Anschließend wird er sich durch die Akten kämpfen, alle Rechnungen zusammenstellen und Mülheims bisher teuerste Brücke mit den Zuschussgebern Land und Verkehrsverbund Rhein-Ruhr abrechnen. Damit will er bis Ende des Jahres 2019 fertig sein.
Was bleibt und länger dauern wird, sind die Verhandlungen darüber, wer die Schuld für die zu kurze Brückenstütze auf der Ostseite tragen muss. Das werden irgendwann Gutachter und Gerichte entscheiden. Im Sommer folgt die erste Inspektion der neuen Thyssenbrücke. Ralf Grunert und Holger Hullerum sehen dieser entspannt entgegen.
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