Stadtgebiet. . Mit 191 Straßen, für die Bürger noch nicht zur Kasse gebeten worden sind, geht Mülheims Verwaltung in die politische Debatte. Die Problemfälle.
Mit einer Liste von 191 Straßen und Straßenabschnitten, deren Erschließungskosten die Stadt noch nicht auf die Grundstückseigentümer ringsum umgelegt hat, geht die Stadtverwaltung in der kommenden Woche auf Drängen der CDU zur Debatte in die Bezirksvertretungen. Liegt hier ein Millionenschatz vergraben, den die Stadt mal endlich heben sollte, zumal: in Zeiten höchster Haushaltsnot? Klaus Schankat, Experte im Technischen Rathaus, tritt auf die Euphoriebremse: Oft stecke der Teufel im Detail. Der Versuch einer systematischen Annäherung.
Thema sind die Erschließungsbeiträge, die Kommunen von Grundstückseigentümern einzufordern haben, wenn eine Straße erstmals komplett fertiggestellt ist. Schon der Begriff der ersten vollständigen Fertigstellung bedarf einer Konkretisierung. Wann ist eine Straße komplett? Details legt eine städtische Satzung fest. So galt in Mülheim jahrelang, dass nur Straßen abgerechnet werden können, die beiderseits über einen befestigten Fußgängerweg verfügen.
Stadt bleibt bei Spielstraßen auf Baukosten sitzen
Die Folge: Bei sämtlichen Spielstraßen und verkehrsberuhigten Zonen blieb die Stadt auf den Baukosten sitzen. Erst vor wenigen Jahren schloss der Stadtrat mit einer neuen Satzung diese Gerechtigkeitslücke. Seither können Straßen(abschnitte), Wege und Plätze mit den Bürgern abgerechnet werden, wenn sie auf tragfähigem Unterbau befestigt und mit elektrischem Licht beleuchtet sind sowie über eine Entwässerungsanlage verfügen.
Laut Liste der Beitragsabteilung im Technischen Rathaus ist dieser technische Ausbauzustand für 30 der 191 noch nicht abgerechneten Straßen(abschnitte) auch erreicht. Eine Beteiligung an den Baukosten kann die Stadt aktuell aber nur in vier Fällen von Anliegern verlangen. Denn es gibt eine weitere wesentliche Bedingung, um Straßenbaukosten umlegen zu können: Der Straßenausbau muss hinreichend durch Planungsrecht abgedeckt sein, idealerweise mit einem Bebauungsplan.
Problem 1: Kein Bebauungsplan
Problem 1: Für viele Bereiche in Mülheim gibt es gar keinen Bebauungsplan, ersatzweise existieren auch keine Fluchtlinien für Straßen und Bebauung. Etwa sind Teile von Eltener, Hansa-, Heiermann-, Paul-Kosmalla und Velauer Straße sowie Teile vom Lönsweg aus Sicht der Stadtverwaltung zwar nach technischem Stand fertiggestellt, doch planungsrechtlich nicht abgesichert.
In diesen Fällen glaubt die Stadt dennoch, die Baukosten ohne großen Aufwand zeitnah auf die Grundstückseigentümer umlegen zu können. Paragraf 125 des Baugesetzbuches gibt der Politik die Möglichkeit festzustellen, dass der Straßenausbau den Grundsätzen der Planung entspricht. Dann darf abgerechnet werden – was die Stadt aber nicht vor Ärger mit Bürgern schützt, die teilweise Jahrzehnte nach den ersten Straßenbauarbeiten zur Kasse gebeten werden – und davon mitunter überrascht werden. Aktuell gibt es dazu Auseinandersetzungen eben an der Eltener, Velauer und Paul-Kosmalla-Straße.
Problem 2: Planungsrecht und Restarbeiten
Problem 2, vermeintlich wohl auch leicht zu lösen: Planungsrecht ist gegeben, aber an der Straße sind noch geringe Restarbeiten auszuführen, um die Kosten umlegen zu können (neun Fälle). Böse Zungen behaupten, bei manch einer Straße hätte die Bauverwaltung in grauer Vergangenheit bewusst mal eine Straßenlaterne weggelassen, um Bürger xy nicht mit Beiträgen zu belasten. Schankat als zuständigem Abteilungsleiter sind derlei Fälle nach eigenem Bekunden nicht bekannt. An der Stichstraße „Am Hain“ in Speldorf sind Bordsteine nicht gesetzt, an der Karlsruher Straße wird absehbar eine kleine Gehweg-Lücke geschlossen, Gehwegteile fehlen auch anderswo.
Das gilt auch für 16 Straßen(abschnitte), für die sich die Stadt über den Paragraf 125, Absatz 2, zusätzlich noch planungsrechtlich absichern müsste.
Mit einer womöglich geringen Investition könnte sich die Stadt an diesen Stellen in die Lage versetzen, deutlich mehr Geld in die leere Kasse fließen zu lassen. Wenn da nicht. . .
Problem 3: Bürger sind in Vorleistung getreten
. . . Problem 3 wäre: Durchaus sind Bürger auch schon in Vorleistung getreten. Es gibt laut Verwaltung gar Fälle, in denen die Stadt bei der endgültigen Abrechnung nicht unbeträchtliche Beträge zurücküberweisen musste. Bis 1960 gab es zudem das Angebot, sich mit einer Vorauszahlung komplett von eventuell darüber hinausgehenden Beitragspflichten zu befreien. Wer hat das Angebot angenommen, wer nicht? „Wir können nicht aus dem Stand beurteilen, bei welchen Anlagen sich – rein betriebswirtschaftlich betrachtet – eine Abrechnung lohnt und bei welchen nicht“, sagt Schankat.
Überhaupt kann es Straßenabschnitte geben, in denen im Laufe der Zeit in zig Bauabschnitten dies und das fertiggestellt worden ist. Die zwei in der Verwaltung für die Beitragsberechnung zuständigen Mitarbeiter arbeiten mit vielerlei Buntstiften, um vor einer Umlegung von Kosten zu markieren, wo welche Randbedingungen zu berücksichtigen sind.
Jede Straße hat ihre eigene Geschichte. Die Berechnung, welche Einnahmen die Stadt hier oder dort noch erzielen könnte, ist stark vom Einzelfall abhängig. Und nicht nur das. . .
Problem 4: Das städtische Akten-Chaos
Problem 4: das städtische Akten-Chaos. Bürger, die aktuell von Beitragsbescheiden überrascht werden, schmunzeln vielleicht bitterböse, wenn sie vom preußischen Fluchtliniengesetz hören, das 1875 noch Reichskanzler Otto von Bismarck unterzeichnet hat. Doch auch dies spielt mitunter noch eine Rolle bei der städtischen Beitragsberechnung. So sind im Zweifel Unterlagen aus grauer Vorzeit hervorzukramen.
Schätzungsweise erst Ende der 1960er-Jahre aber hat die Stadt zumindest dafür gesorgt, dass entsprechende Bau-Unterlagen zu einzelnen Straße – unsortiert – in Akten zusammengetragen wurden. Für eine alte Straße alles Relevante ins rechte Licht zu setzen, koste „viel Mühe“, sagt Schankat. Noch mal zur Erinnerung: Neben Schankat steht aktuell nur ein weiterer Mitarbeiter für die 191 offenen Fälle zur Verfügung. „Wir sind mit den realen Abrechnungen voll ausgelastet, sagt der Beitrags-Experte. Wenn die Politik nun einfordern würde, für alle 191 offenen Fälle mögliche Einnahmen aufzulisten, wäre das „ein riesiger Aufwand, im Grunde nicht leistbar“.
Problem 5: Endausbau weicht vom Planungsrecht ab
Problem 5: Schwieriger sind die Fälle, wo der Straßenbau abgeschlossen ist oder nur noch Restarbeiten anstehen, der Endausbau aber erheblich abweicht vom Planungsrecht. In 33 Fällen ist dies der Fall. Hier müssten aufwändige planungsrechtliche Verfahren in Gang gesetzt werden, damit die Stadt nicht auf den Baukosten sitzen bleibt.
Problem 6: Straßen sind nur teilweise ausgebaut
Problem 6: Für weitere 120 Straßen(abschnitte) stellt die Stadtverwaltung aktuell fest, dass sie bislang nur in Teilen, provisorisch oder komplett unausgebaut sind, teilweise gibt es dazu noch planungsrechtliche Hürden. Hier wären mitunter noch hohe Investitionen zu tätigen, um später 90 Prozent davon auf die Anlieger umlegen zu können. Schankat fasst die Problemlage so zusammen: „Ich warne davor, die Liste als taugliches Instrument zu sehen, den Haushalt zu sanieren.“