Mülheim. Der Psychiater Dr. Rudolf Groß gibt einen Einblick in die Krankheit. Er schildert, wie sie Betroffene verwandelt und welche Gefahren sie birgt.

Depressionen gehören inzwischen zu den Volkskrankheiten. Geschätzt wird, dass jeder Fünfte einmal im Leben an dieser psychischen Störung erkrankt. Aber nicht unbedingt auch behandelt wird. Zum Internationalen Tag der seelischen Gesundheit, der am 10. Oktober begangen wird, erklärt Dr. Rudolf Groß, Chefarzt der Psychiatrie am St. Marien-Hospital in Mülheim, das Wesen der Depression und die Möglichkeiten der Therapie.

Depressionen und Angststörungen sind laut Groß die häufigsten seelischen Erkrankungen, die behandelt werden und die somit auch einen wesentlichen Anteil bei der Arbeitsunfähigkeit und der Frühverrentung haben. Schätzungen, dass bei rund der Hälfte der jährlichen Selbsttötungen hierzulande eine Depression zugrunde liegt, hält der erfahrene Psychiater für zu niedrig.

Die Krankheit beeinflusst nicht nur die Stimmung

Die Krankheit beeinflusst die Stimmung, das körperliche Erleben und die seelische Energie eines Menschen. Zwar leitet sich der Name Depression vom lateinischen „deprimere“, niederdrücken, ab, doch muss eine traurige Stimmung nicht unbedingt bei jedem Depressiven auftreten, so Groß. „Typisch ist das Fehlen von Gefühlen, die Patienten sprechen von einer inneren Leere, von einem Gefühl der Gefühllosigkeit“, erklärt er. Betroffene beschrieben ihren Zustand häufig so, als wäre eine Wand zwischen ihnen und ihren Gefühlen.

„Was ihnen immer Freude machte, kommt nicht mehr bei ihnen an.“ Deshalb sei es auch nicht unbedingt hilfreich, wenn Nahestehende Kranken empfehlen, etwas zu unternehmen, was ihnen sonst immer Spaß gemacht habe. „Der Betroffene erlebt sich ja selbst als teilnahmslos. Das kann das negative Gefühl noch verstärken.“

Depressive fühlen sich oft schlapp und antriebslos

Körperlich fühlt sich ein depressiver Patient oft müde und schlapp, kraft- und antriebslos. „Es können auch Funktionsstörungen auftreten, wie Kopf-, Bauch-, Rücken- und Gliederschmerzen“, zählt Groß auf. Auch das vegetative Nervensystem kann betroffen sein, so könne der Blutdruck steigen oder auch fallen. „Die Depression nennt man auch das Chamäleon unter den Erkrankungen – weil sie eben so vielgestaltig ist“, sagt der Chefarzt. Wesen der Erkrankung sei, dass sie die Schwachstellen eines Menschen bloß lege. Das macht die Diagnose einer Depression nicht gerade einfach: Rückenschmerzen zum Beispiel, auch so eine Volkskrankheit unserer Zeit, müssen keine organische Ursache haben.

Die seelische Energie, die jemand mit einer Depression aufbringen muss, um seinen Alltag überhaupt bewältigen zu können, sei immens, so Groß. „Umso mehr sind Depressive dann überfordert, wenn zusätzlich etwas außer der Reihe anliegt.“ Vor ihrer Erkrankung waren diese Menschen zumeist sehr aktiv, besonders fleißig, engagiert, pflichtbewusst und verlässlich – eine Grundpersönlichkeit, erklärt Dr. Rudolf Groß, die ganz schlecht mal „fünfe gerade“ sein lassen könne.

Psychotherapie ist hilfreich

Nicht alle Formen der Depression müssen auch behandelt werden, so Groß. Hilfreich ist die Psychotherapie und Medikamente, die in manchen, schweren Fällen auch lebenslang eingenommen werden müssen.

Depressive können Suizidgedanken in einer inneren, verzweifelten Situation entwickeln, was für die Umwelt oft nur schwer zu erkennen ist. „Das Leben kann in der Depression seinen Sinn verlieren, weil die positiven Gefühle fehlen“, erklärt Groß. „Eine Depression kann die Sicht der Dinge völlig verzerren, so dass der Bezug zur Wirklichkeit verloren geht.“ Der Wunsch nach „Ruhe und Frieden“ könne in einer als unerträglich erlebten Situation übermächtig werden. Ein erweiterter Suizid kann dann auch geliebte Menschen mit einbeziehen, die man schützen möchte.

Entspanntes Verhalten als Warnzeichen

Sei die Entscheidung für eine Selbsttötung einmal gefallen, wirkten die Erkrankten auf ihre Umwelt oft geradezu entspannt und erleichtert. Das könne auch ein Warnhinweis sein, der auch für Ärzte nicht leicht zu erkennen sei. „Wir müssen mit allen Depressiven über ihre Suizidgedanken sprechen“, betont Groß, und dass Medikamente die Erkrankten entlasten können. „Nach vier Wochen Behandlung sind bei 95 Prozent der Betroffenen die Suizidgedanken verschwunden“, weiß der Psychiater.

Zu einer Erkrankung können viele Faktoren beitragen, erläutert Chefarzt Groß: Veranlagung und Umweltfaktoren wie Verluste, Trennungen und sonstige Veränderungen spielten eine Rolle, aber auch Missbrauch von Drogen und Alkohol oder eine schwere körperliche Erkrankung können depressiv machen. Auch das Gefühl ständiger Überforderung könne in eine Depression führen: „Wir reden heute oft von Achtsamkeit, von Work-Life-Balance“, so Groß. Was nichts anderes bedeute, als dass das Verhältnis von Anspannung und Entspannung im Job und privat stimmen müsse, so dass man sich nicht viel zu viel zumutet.

>>> Zur Person: Dr. Rudolf Groß

Dr. Rudolf Groß ist Chefarzt der Klinik und der Tagesklinik für Psychia­trie und Psychotherapie des St. Marien-Hospitals. Er hat die Klinik in den 1980er-Jahren am Katholischen Krankenhaus Mülheim aufgebaut.

Rund 1600 Patienten werden jährlich in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie von Groß und seinem Team behandelt. Davon begeben sich 1300 vollstationär in Behandlung, 300 gehen in die Tagesklinik.