Mülheim. . In kaum einer anderen Stadt haben sich so schnell und oft Initiativen gegründet, um politische Entscheidungen zu ändern. Neun Bürgerbegehren.
In vielen Dingen war Mülheim in der Vergangenheit Spitze. So soll es etwa in den 70er und 80er Jahren deutschlandweit die Hauptstadt der Bürgerinitiativen gewesen sein. Von einem Spitzenplatz ist auch derzeit wieder die Rede, wenn es um bürgerliche Gegenwehr geht: In kaum einer anderen Stadt im Land gab es seit Ende der 90er Jahre so viel Bürgerbegehren und -entscheide wie in der Stadt am Fluss. Mit dem Kampf um den Erhalt der VHS in der Müga startet in diesen Tagen das neunte Bürgerbegehren. Was stachelt den Widerspruch an? Macht Mülheim Politik über die Köpfe der Menschen hinweg?
Das erste Begehren im Jahr 2000
Im Jahr 2000 startete das erste Bürgerbegehren. Die Entscheidung, zwei Stadtteilbibliotheken zu schließen, sollte gekippt werden. Knapp 14 000 Mülheimer stimmten für den Erhalt, das nötige Quorum damals von 34 000 Stimmen wurde jedoch klar verfehlt. Gescheitert.
Schon ein Jahr später ging es erneut an die Abstimmung. Diesmal hieß es: Soll das Freibad in Mülheim-Styrum auch zukünftig geöffnet bleiben? 17 000 mal Ja. Danach änderte auch der Stadtrat seine Meinung und schloss sich dem Begehren an, ohne das es das Naturbad heute in Styrum nicht mehr gäbe.
Damals schon bekam der Widerstand auch ein politisches Gesicht; die Mülheimer Bürgerinitiativen (MBI) zogen 1999 als Fraktion in den Stadtrat ein. „Deren Fraktionschef Lothar Reinhard hat es schnell verstanden, den Protest zu kanalisieren. Der hat die Initiativen unter einem Dach eingesammelt“, heißt es im Rathaus. Mit Initiativen gegen Bebauungen, für Luftschneisen, gegen die Fortentwicklung des Flughafens, gegen den Verkauf städtischen Eigentums – die MBI gewannen an Zulauf.
Widerstand gegen Wettbewerb
Anfang November 2003 beschloss der Planungsausschuss einen Architekten-Wettbewerb zur Ruhrpromenade, dem Kernstück des Ruhrbania-Projekts. Ein Bürgerbegehren, dass dieses Unterfangen als sinnlos und unfinanzierbar beschrieb, sollte es verhindern. Es war letztlich unzulässig. Ebenso das zwei Jahre später, das den Verkauf und die Bebauung der Ostruhranlagen verhindern sollte. Der Mülheimer gab sich jedoch nie leicht geschlagen, schaltete wie bei den Ostruhranlagen schon mal das Verwaltungsgericht Düsseldorf ein, weil man die Ablehnung wegen Unzulässigkeit nicht einsah. Man unterlag.
Einer, der mehr als drei Jahrzehnte in Mülheim Kommunalpolitik betreibt, ist Dieter Wiechering (SPD). „Die Mülheimer hatten schon immer ein großes Beharrungsvermögen gegenüber Neuerungen“, sagt er. Einher gehe damit die kritische Würdigung so mancher Projekte. Und: „Im Vergleich zu anderen Städten gab es in Mülheim stets auch Persönlichkeiten, die sich dazu öffentlich äußerten und die in der Lage waren, andere zu mobilisieren, so Wiechering. Oftmals ging es aus seiner Sicht dabei jedoch in erster Linie um die Befriedigung eigener Interessen. Kritisch merkt der SPD-Mann aber auch an: Um die Jahrtausendwende habe es auch eine Arroganz der Macht gegeben. Soll heißen: „Politik ging nicht auf den Bürger ein.“ Sich mehr und eher an die Bürger zu richten, hält Wiechering für sinnvoll. Schwierig werde es jedoch immer dann, wenn Emotionen im Spiel seien, wie jetzt beim jüngsten Bürgerbegehren zur VHS. Es hätte gerade in dem Fall nicht soweit kommen müssen, meint er. Der Planungspolitiker sieht in Sachen VHS hausgemachte Fehler von Verwaltung und Politik.
Ablehnung von Privatisierung
Einen großen Erfolg verzeichnete die Initiative, die 2004 unter dem Motto „Stopp dem Ausverkauf: Mülheim gehört uns!“ gegen eine Privatisierung antrat. Es ging um den Verkauf der Stadtentwässerung oder der Energie- und Wasserversorgung. Jeder vierte wahlberechtigte Mülheimer machte mit, 27 435 stimmten gegen eine Privatisierung, mehr als erforderlich. Nur zwei Jahre später wurde erneut versucht, per Bürgerbegehren Privatisierungen städtischer Gebäude zu untersagen. Das nötige Quorum von 27 000 Stimmen wurde knapp verfehlt.
Mülheim, so sieht man es im Rathaus, hat eine relativ wohlhabende Bevölkerung , es gibt ein starkes Bildungsbürgertum. Die Folge: Viele hätten Zeit, sich einzumischen. Gute Planungen, bedauert mancher auch in der Politik, würden schnell zerredet und schlecht gemacht.
Erneut Gericht eingeschaltet
Im Sommer 2011 beschließt der Stadtrat die Auflösung der Hauptschule in Eppinghofen. Längst gibt es überall das „Hauptschulsterben“, verschwindet diese Schulform zusehends. In Mülheim ist es anders: Was folgte, war eine der größten Protestaktionen in der Stadt. Immer wieder klinken sich politische Parteien in die Begehren mit ein, diesmal tat es die SPD. Auch hier zogen die Initiatoren in Sachen Zulässigkeit vor Gericht und bekamen Recht. Erstmals gab es fast zwei gleich starke Lager, wobei sich die Befürworter der Hauptschule mit über 17 000 Stimmen durchsetzten.
Jetzt geht es um die VHS in der Müga
Ein Bürgerbegehren, das kurz nach dem Start scheiterte, war der Versuch, eine Beteiligung von Innogy an dem Mülheimer Energieunternehmen Medl zu untersagen. Das war 2016. Die Unterzeichner waren jedoch auf den Listen nicht über den aktualisierten Sachverhalt des Geschäftes informiert worden. Ein Fehler, daher unzulässig. Jetzt wird es in den nächsten Wochen um die VHS in der Müga gehen, die seit dem Sommer gesperrt ist, weil der Brandschutz mangelhaft ist.
Es dürfte in Mülheim nicht das letzte Bürgerbegehren sein, glaubt Lothar Reinhard von den MBI. Er und seine Mitstreiter haben in den vergangenen Jahren viele Initiativen unterstützt und haben eine einfache Erklärung dafür, warum Bürger sich in Mülheim so oft zur Wehr setzen:
Am politischen Leben in den Parteien beteiligen
Viele Prozesse und Entscheidungen liefen einfach an den Menschen vorbei, sagt Reinhard und wünschte sich: „Die Menschen wollen früher informiert werden, sie wollen ergebnisoffene Diskussionen, sie wollen, dass ihre Bedenken und Vorschläge ernst genommen werden.“ Zu oft würden die Menschen vor vollendete Tatsachen gestellt.
Noch nie, ist auf der anderen Seite aus den Parteien zu hören, habe es in der Stadt so viele Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben wie heute. Noch nie so oft habe es Bürgersprechstunden gegeben, noch nie so oft frage man Bürgermeinungen ab. Die Bürger, so ein Wunsch, sollten sich doch mehr am politischen Leben in den Parteien beteiligen.