Mülheim. Zum „Tag der Archive“ öffnete sich das Mülheimer Stadtarchiv. Besucher durften Hinterzimmer betreten und uralte Zeitungen in die Hand nehmen.
Ganz ernst im steifen Frack schaut das Lehrerkollegium des städtischen Gymnasiums in die Kamera, nicht anders die Stimmung im Klassenraum – „ganz typisch für diese Zeit“, merkt Annett Fercho zu der Fotografie von 1905 an, die im Lesesaal des Hauses der Stadtgeschichte just ausgestellt ist. Zum Tag der Archive hatte die Diplomarchivarin manches Schmankerl in ihrer Führung durch das Gedächtnis unserer Stadt zu bieten.
Denn staubtrocken ist es im altehrwürdigen Gebäude der früheren Augenklinik ohnehin genug. Genauer gesagt sind zwischen 40 und 60 Prozent Luftfeuchtigkeit für die Archivierung von Fotos (in 250 thematische Mappen sortiert), Urkunden, Karten und etliche andere Formen der Dokumentation vorgeschrieben. Und an manchen Stellen in den langen weißen Fluren und Räumen dürfen nur 16 bis 18 Grad herrschen.
Normalerweise bleiben Besucher im Lesesaal
Die wenigsten Mülheimer dürften bisher in den wohltemperierten Kemenaten des Gedächtnisses der Stadt gewesen sein. Für Geschichtsinteressierte endet die Zeitreise in der Regel im etwas spartanischen, aber ausreichend gemütlichen Lesesaal des ersten Stocks. Denn hier befinden sich zum einen einige stadtgeschichtliche Dokumentationen wie das Mülheimer Jahrbuch und manche Zeitung wie die erste Mülheimer Ausgabe der „Neue Ruhr Zeitung“ von 1946 – oder kurz: NRZ.
Zum anderen sind hier die in preußischer Ordentlichkeit als Akte gesammelten Übersichten und Findbücher. Wer sich aber durch die nüchterne Akribie schwarzer Ordner und Zettelwirtschaft wälzt, wird mit Schätzen aus jenen Kemenaten belohnt, die die Mitarbeiter auf Wunsch ans Tageslicht bringen. Die Heiratsurkunde von 1895 eines gewissen Mülheimers Hugo Adolf Eugen Victor Stinnes und seiner Frau Eleonore Hermine Henriette Emilie Clara Wagenknecht oder kurz: Cläre.
Magazin des Standesamtes wird häufig genutzt
Doch Annett Fercho nimmt gut 16 Wissbegierige diesmal mit zu den Orten der Erinnerung: Auf das Magazin des Standesamtes wird in Mülheim wohl am häufigsten zugegriffen, wenn man Ahnenforschung betreibt, „vor allem die Heiratskartei ist begehrt“, verrät die Diplomarchivarin. Im Zeitungsarchiv schlummern 113 Zeitungen – eine theoretisch 600 Meter lange Strecke. Die älteste ist übrigens von 1797 und hieß damals, als man offenbar sehr viel Zeit zum Lesen hatte: „Mülheimer Zeitung der neusten Begebenheiten“. Ob man die Exemplare nur mit Handschuhen anfassen dürfe, fragt ein Besucher. Nicht nötig, antwortet Fercho, denn so lässt sich nicht gut blättern. Aber man sollte nicht unbedingt vorher eine Stulle oder Pommes gegessen haben.
Nebenan haben sich alte Karten und Pläne der Stadt ausgebreitet, die etwa die verschiedenen Gebiets- und Eingemeindungsreformen zeigen, zuletzt mit Mintard in den 1970er Jahren. Gut 750 Stück, nicht eingerechnet die ausgelagerten Katasterkarten der Stadt. Überhaupt fallen jährlich jede Menge städtische Daten an, doch nur vier bis fünf Prozent davon werden archivwürdig eingelagert.
Stadtarchiv ist selber erst seit 1972 unabhängig
Apropos Eingemeindung und Emanzipation: Auch das Stadtarchiv hat eine solche Geschichte hinter sich. Noch vor etwa 150 Jahren bestand dieses lediglich als Teil einer frisch gegründeten Stadtbücherei. Erst 1972 erhielt das Archiv seine Unabhängigkeit und eine Archivarsstelle mit Bibliothekarin, erläutert Fercho.
Interessante Zeitzeugen in Form von Plakaten befinden sich hier ebenfalls. Zum Beispiel eine frühe Castle-Rock-Werbung oder ein Plakat „Karneval in Rio“, auf dem noch das Wort „Neger“ zu lesen ist. Aufbewahrungswürdig? Mitunter scheint’s auch eine Geschmacksfrage zu sein.
Als der Erzbischof ein Wäldchen schenkte
Weiter unten im Keller sind die wohl ältesten Dokumente Mülheims, eine Urkunde aus dem Jahr 1221. Der Kölner Erzbischof hat die Schenkung eines Wäldchens an das Kloster Saarn veranlasst. Klingt profan? Besucherin Irmhild Lerch ist von solchen Überlieferungen angetan: „Sie haben schöne Schriften, sie strahlen etwas aus. Nichts geht verloren – das finde ich einen schönen Gedanken.“
Und wenn Annett Fercho nur fünf Dinge aus dem Stadtarchiv retten dürfte diese Urkunde und andere aus der Herrschaft Broich, Styrum und Kloster Saarn wären darunter, gesteht sie: „Denn hier beginnt die Überlieferung unserer Stadtgeschichte.“