Mülheim. . Heiligabend im zweiten Weltkrieg? Heute kaum vorstellbar. Mülheimer erinnern sich an Weihnachten 1944 zwischen Bomben, Entbehrung und Besinnnung.
Es war ein eisiger Winter an Heiligabend 1944, erinnert sich Marianne Lierhaus. Weil das Haus der Mülheimer Familie am 1. November ausgebombt wurde, flohen sie zu Verwandten nach Weimar. Vor der Eingangstür eine Decke, damit die Kält nicht reinkroch. „Die Möbel im einzigen Zimmer waren mit Leinen abgedeckt – wir waren ja die ‘Schmutzfinken’ aus dem Ruhrgebiet. Wir saßen um eine geliehene Kerze, einen Tannenzweig und das Bild des Bruders Helmut. An Geschenke war gar nicht zu denken. Und doch waren wir niemals vorher und niemals danach dem Grundgedanken der Weihnacht so nahe ...“
Maria und Josef waren Flüchtlinge
Auf das Wesentliche reduziert, wie Maria und Josef kamen sie sich vor – „auch sie waren Flüchtlinge und nicht willkommen“, vergleicht die heute 90-Jährige, „es war für uns damals aber nicht schrecklich, wir hatten ja uns und haben viele Weihnachtslieder gemeinsam gesungen“. Es wäre gut, gibt die Mülheimerin zu bedenken, wenn sich auch heute die Menschen an die Situation von Maria und Josef erinnerten, wenn sie über Flüchtlinge sprechen.
Ein regelrechtes Wunder der Weihnacht hat Walter Neuhoff in Mülheim erlebt: „Der Schnee lag meterhoch wie noch vor ein paar Jahren im Winter 2010. Es war der Nachmittag an Heiligabend 1944, zehn vor Zwei, als der Bombenalarm losging.“ Der Vater kam gerade nach Hause, Zeit, um in den sicheren Bunker zu kommen, blieb nicht mehr, „wir kamen nicht mal bis zur Tür als schon die ersten Bomben fielen“. Also schnell runter in den Keller. Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte das Haus an der Tersteegenstraße, dabei hatte die Brandbombe der Alliierten ‘nur’ das Nachbarhaus getroffen.
„Trotzdem war alles auch bei uns kaputt: die Fenster eingedrückt, Möbel, Plätzchen, Weihnachtsessen – alles lag durcheinander in der Stube rum. Dabei hatten wir einfach nur Glück, dass wir starken Ostwind hatten. Der hat die Flammen von unserem Haus abgehalten“, erinnert sich der damals Achtjährige. Auch die Nachbarn hatten den Bombenangriff glücklicherweise überlebt.
Unvergessliche Schocknacht
Zwei Stunden verbrachten die Neuhoffs im Keller, während oben die Flammen loderten. „Vater hat später vom Dach aus geguckt, ob das Feuer übergreift. Wir haben dann Verdunklungspapier vor die zersprungenen Fenster gemacht und ein notdürftiges Essen gekocht – der Braten war ja unbrauchbar. Heiligabend war für mich als Kind eine unvergessliche Schocknacht, die schlimmsten Weihnachten meines Lebens“, sagt der 81-Jährige.
Ein Jahr später, 1945, kehrte der Alltag wieder ein, die Neuhoffs hatten provisorische Fensterscheiben und auch einen Christbaum – „der war wunderschön“.
Geschmückt mit Wachskerzen und Engelshaar
An seine Aufregung als Kind zur Weihnacht 1940 kann sich der Mülheimer Wilfried Hermanns noch sehr gut erinnern. „Der Krieg war noch nicht bei allen Familien angekommen, daher verlief das Fest normal.“ Der Christbaum wurde geschmückt mit Wachskerzen und Engelshaar, „die Bescherung begann bei uns, wie immer, morgens am ersten Weihnachtstag“.
Und doch gab es eine absolute Überraschung, erinnert sich der damals fünfjährige Wilfried mit Begeisterung: „Was stand da unter dem Christbaum? Die lang ersehnte Autobahn mit zwei LKW und zwei PKW.“ Aus lackiertem Blech waren die Bahnen, die Autos wurden mit einem Schlüssel aufgezogen. „Man konnte damit bei seinen Freunden Eindruck schinden. Um eine Beschädigung durch Bomben zu vermeiden, wurde sie in Tücher gewickelt und im Schrank verstaut. Vergessen wurde die Bahn aber nie.“
Als das Kettcar noch anderthalb Zentner wog
An die „gute Stube“ aus der Kindheit erinnert sich Wolfram Keffel genau: „Meine Mutter hat sie immer für Heiligabend hergerichtet“ – keiner außer ihr durfte das geheimnisvolle Zimmer betreten. Bis eben das helle Glöckchen zur Bescherung läutete. „Die Geschenke brachte dann nicht etwa der Weihnachtsmann, sondern das Christkind.“
Wie viele Mülheimer haben auch die Keffels ihre Tradition durch die Jahrzehnte bewahrt. Am Baum leuchten immer noch echte Kerzen statt LED-Lämpchen und an den Zweigen hängen Figuren von damals. „Wir hatten einen besonderen Baumständer, der sich drehte und dabei Weihnachtslieder spielte“, schildert der Ingenieur im Ruhestand. Selbst wenn es den leider nicht mehr gibt, das gemeinsame Singen vor der Bescherung gehört bis heute zum guten Ton – wie übrigens auch das Glöckchen.
Grüßen an die Seemänner gelauscht
An das ‘gute alte’ Weihnachten ihrer Kindheit erinnert sich Ehefrau Elke Keffel gerne, die damals noch im hohen Norden lebte. „Wir haben bei den Vorbereitungen auf die Bescherung im Radio den Grüßen an die Seemänner gelauscht, die auf hoher See waren und nicht zuhause sein konnten – das fanden wir spannend.“ Besinnlichkeit am Heiligabend ist beiden heute noch so wichtig wie der Kirchgang: „Wir legen tagsüber eine Platte von Karl Heinrich Waggerl mit Weihnachtsgeschichten von früher auf“, muss Wolfram Keffel schmunzeln, „unsere Kinder schütteln manchmal den Kopf, ich finde das gemütlich“.
Weihnachten 1946 wird hingegen Günter Voss ewig schwer im Gedächtnis bleiben: „Meine Familie wollte mich mit einem selbstgebauten Kettcar überraschen.“ Nur wog das Gefährt aus Stahl und dicken Blechen anderthalb Zentner. „Vier Männer trugen es mit Gepolter in den ersten Stock“, erinnert Voss amüsiert. „Wir sausten damit die Hermannstraße runter.“ Und anschließend schoben sie es mühsam hoch – das Tretlager wurde nie fertig.