Mülheim. . Nach anderthalb Jahren in behüteter Umgebung muss ein Junge doch zum leiblichen Vater. Die Pflegeeltern trauern. Das Amt habe sie nicht geschützt.

  • Pflegekind kam bereits als Säugling zu ihnen
  • Trotz Umgang mit leiblichem Vater sprach das Jugendamt der Familie die Dauerpflege zu
  • Dann entschied das Gericht: Der Junge muss zum Vater

Familie Bathe trauert. Sie hat ein Kind verloren. Der Junge lebt zwar, das schon, doch für Manuela und Marcus Bathe und ihre drei Kinder ist der Verlust trotzdem immens. „Man hat ihn aus unserem Leben gerissen“, sagt Manuela Bathe, die für anderthalb Jahre Pflegemutter des Kleinen war. Vor rund zwei Wochen hat das Jugendamt das Kerlchen abgeholt; das Familiengericht hat entschieden, er soll alsbald beim leiblichen Vater leben. Den Bathes hatte das Jugendamt Monate zuvor allerdings etwas anderes in Aussicht gestellt: ein dauerhaftes Leben mit Ante (Name geändert).

Etwa 20 Pflegekinder seit 2010

Anderthalb Jahre lang war Ante als Pflegekind bei den Bathes, nur Tage nach seiner Geburt im April 2015 hatten sie ihn aufgenommen. Er war nicht das erste nicht-leibliche Kind, um das sie sich kümmerten. Rund 20 Pflegekinder haben seit 2010 über kürzere oder längere Zeit bei Bathes Unterschlupf gefunden, nachdem das Jugendamt sie wegen Notsituationen wie häuslicher Gewalt oder Verwahrlosung in Obhut genommen hatte. Bereitschaftspflege nennt sich das, Bathes sprechen von Familie auf Zeit.

Jede Geschichte war anders, viele waren sehr traurig. Bei Ante sei Krankenschwestern aufgefallen, dass die leibliche Mutter – eine Frau mit psychischer Erkrankung und Suchtproblemen – mit dem Säugling nicht umzugehen wusste. „Sie schlugen Alarm wegen Kindeswohlgefährdung“, so der Pflegevater. Seine Frau fuhr in die Klinik, begegnete Ante zum ersten Mal, und es passierte etwas, was bis dato so noch nie passiert war: „Ich habe mich sofort in das Kind verliebt.“

Manuela Bathe schrieb ihrem Mann eine SMS: „Falls er jemals ein Dauerpflegekind wird, könnte er bei uns leben.“ Heißt: Erstmals dachten die Mülheimer darüber nach, ein bedürftiges Kind nicht nur als Mitglied auf Zeit in die Familie zu holen, sondern für immer.

Zuneigung zu dem „temperamentvollen, fröhlichen, neugierigen“ Kind wuchs

Ihre Zuneigung zu dem „temperamentvollen, fröhlichen, neugierigen“ Kind wuchs. Klar war trotzdem, dass es zum leiblichen Vater Kontakt haben sollte. Antes Mutter hatte sich bewusst gegen Treffen entschieden. Der Vater aber, der vor einem Jahrzehnt aus Afrika nach Europa gekommen war und seit kurzem in einer Mülheimer Flüchtlingsunterkunft lebt, kam zweimal im Monat für einige Zeit vorbei. „Er war immer zuverlässig und liebevoll, das kann man nicht anders sagen“, so Marcus Bathe.

Anfang 2016, als Ante ein Dreivierteljahr alt war, entschied das Amt, dass der Vater erstmals allein Umgang mit dem Sohn haben sollte: zweimal wöchentlich für drei Stunden. Das lief nicht mehr ganz so gut, erinnert sich Manuela Bathe (36): „Wenn er wiederkam, war er nicht ausgeschlafen, nicht satt gegessen, nicht gewickelt.“ Das Kind habe Wutausbrüche entwickelt, nächtliche Schreiattacken. Eine Kinderärztin habe dies auf die Kontakte zurückgeführt, eine Reduzierung der Stunden gefordert. So traf Ante den Vater wieder seltener und auch nur noch in Begleitung der Pflegeeltern.

Als der Junge ein Jahr alt war, habe das Amt beschlossen, ihm ein festes Zuhause zu geben. Bathes drei eigene Kinder hatten Ante längst als Geschwisterchen akzeptiert und so boten sie an, ihn tatsächlich in Dauerpflege zu nehmen, eines Tages möglicherweise zu adoptieren. Der Vater habe zugestimmt; die Sache war damit offiziell. Spätestens ab diesem Zeitpunkt sei man davon ausgegangen, dass Ante bleibt – für immer. Man entschied, ein größeres Haus zu kaufen, mit Zimmern für jedes der vier Kinder. Der Kontakt zum leiblichen Vater bestand dennoch weiterhin, „es lief wunderbar“, so die Pflegemama.

Mit einem Mal Sorgerecht beantragt

Anfang Oktober erfuhr die Familie „aus heiterem Himmel“, dass der leibliche Vater das Sorgerecht beantragt hatte. Und nur eine Woche später sprach das Familiengericht ihm dieses auch tatsächlich zu. Ein Schock für die Familie, „zumal uns das Jugendamt das Gefühl vermittelt hatte, wir bräuchten uns keine Gedanken zu machen“. Man sei im Verfahren nicht mal angehört worden. Dafür aber sollte man nun mit einem Mal daran mitarbeiten, den Jungen Stück für Stück auf das dauerhafte Leben mit dem leiblichen Vater vorzubereiten. „Das war zu viel für uns“, so Manuela Bathe, man habe das Kind „nicht wieder enttäuschen wollen“ wie damals in der Testphase und habe Angst gehabt, nach jedem Treffen „ein durchgeknalltes Kind zurückzubekommen“. Der Junge also kam für die Anbahnungsphase in eine andere Pflegefamilie. „Wir hätten ihn niemals loslassen können.“

Bathes sprechen von einem „unsauberen Verfahren“. Sie als Pflegeeltern seien „schutzlos“ gewesen. Trotzdem wolle man nicht nachtreten, „keine schmutzige Wäsche waschen“. Andere Pflegeeltern aber sollten wissen, dass so etwas passieren kann. Es sei dringend nötig, diese abzusichern. Immerhin werde man nun mit der Trauer nicht allein gelassen: „Das Jugendamt hat einen Supervisor angeboten – damit die Kinder und wir eines Tages doch noch damit klarkommen.“

„Verfahren ist unglücklich gelaufen“

„Traurig und bedauerlich“ nennt Martina Wilinski, Leiterin des Kommunalen Sozialen Dienstes, den Fall Ante. Das Jugendamt trage daran eine gewisse Mitschuld: Man habe der Umwandlung von der kurzzeitigen Bereitschafts- zur zumeist verlässlichen Dauerpflege nämlich zugestimmt, bevor das im Hintergrund laufende, familiengerichtliche Verfahren beendet war. „Das war unglücklich.“ Grund sei die falsche fachliche Einschätzung gewesen, das Gericht werde sich wohl gegen den Vater entscheiden.

Keine Frage, so Wilinski, „die Trennung war für alle Beteiligten eine Riesenherausforderung“. Und auch wenn sie das Geschehen bedauere, „zumal die Pflegeeltern wirklich toll sind, schon viele gute Dienste geleistet haben“: Ante und sein Vater seien auf einem guten Weg. Der Vater habe von Anfang an Kontakt gehalten, sich durchaus bewährt. „Er macht das richtig gut“, so die Diplom-Sozialarbeiterin, das Kind habe mittlerweile eine Beziehung zu ihm aufgebaut. „Man kann sehen, wie sie aufeinander zugehen. Ich gebe ihnen eine gute Prognose.“ Mit Hilfe speziell geschulter Pädagogen werde das Duo bald in eine Vater-Sohn-Einrichtung ziehen. „Ziel ist es, dass sie dort mit flankierenden Hilfen ihren Weg finden.“

Es sei natürlich nie gut, wenn Kinder Beziehungsabbrüche erlebten

Es sei natürlich nie gut, wenn Kinder Beziehungsabbrüche erlebten; „viele Symptome aber kann man mit therapeutischen Mitteln beheben“, so Wilinski. Für die tägliche Arbeit müsse man aus dem Fall dringend Lehren ziehen: Der Zeitpunkt, der Dauerpflege zuzustimmen, sei schlicht falsch gewesen.

Man werde nun versuchen, Familie Bathe zu begleiten, „für sie da zu sein“. Künftig übrigens ändere sich das Gesetz: „Der Schutz von Kindern in Dauerpflegefamilien wird gestärkt. Jugendämter und andere werden verpflichtet, Abbrüche noch stärker zu vermeiden.“