Mülheim. . 12,1 Prozent mehr Arbeitslose - im Jahresvergleich hat im Ruhrgebiert keine Stadt einen derart hohen Zuwachs wie Mülheim. Erklärungsversuche der Sozialagentur.

Die Präsentation der Arbeitslosenzahlen zum 31. März hat in Mülheim Rätselraten ausgelöst: Wie ist es zu erklären, dass die Zahl der offiziell als arbeitslos registrierten Mülheimer binnen Jahresfrist um satte 12,1 Prozent angestiegen ist? Nirgends im Ruhrgebiet ist ein Zuwachs ähnlichen Ausmaßes festzustellen. In der Chefetage der Sozialagentur versuchte man sich auf Anfrage an Erklärungen.

Die Fakten: Von März 2015 bis März 2016 ist die Arbeitslosenzahl in Mülheim um fast 800 auf 7283 Personen hochgeschnellt. Der Anstieg um 12,1 Prozent ist revierweit einmalig. Nur in sieben der 19 Städte sind die Zahlen überhaupt gestiegen. In Gelsenkirchen ist die Arbeitslosigkeit am zweitstärksten gewachsen, mit plus 6,3 Prozent dennoch deutlich schwächer als in Mülheim. Die Arbeitslosigkeit in Mülheim war seit März 2008 nicht so hoch.

Der rasante Zuwachs binnen Jahresfrist konzentriert sich allein auf den Hartz-IV-Bereich, den die Sozialagentur der Stadt in Eigenregie betreut. Die Zahl der von der Agentur für Arbeit betreuten Menschen im Leistungsbezug von Arbeitslosengeld 1 ist im besagten Zeitraum gar um 5,7 Prozent zurückgegangen. Im SGB II-Sektor liegt der Anstieg bei: 18,2 Prozent!

Erklärungsversuche der Sozialagentur

Klaus Konietzka und Dr. Jennifer Neubauer aus der Chefetage der Sozialagentur legen selbst Statistiken vor, um Erklärungsversuche für das „Mülheimer Phänomen“ zu unternehmen. Die da wären:

  • 1. Insbesondere bei Ausländern ist ein starker Anstieg von überproportionalen 33,4 Prozent auszumachen. 560 Ausländer mehr waren im März 2016 arbeitslos im Vergleich zum Jahr davor. Nur in Duisburg finden sich unter den Arbeitslosen mehr Ausländer als hier. Mehr als jeder dritte Arbeitslose in Mülheim hat ausländische Wurzeln. Mit der zunehmenden Zahl an Flüchtlingen, die der Sozialagentur zur Arbeitsvermittlung überstellt werden, wird die Herausforderung immer größer. „Rund 70 Prozent“, so Konietzka, „kommen hier ohne Ausbildung an.“ Vor allem werde es die Agentur mit jungen Menschen zu tun bekommen. Mehr als die Hälfte sei jünger als 25. „Da müssen viele das Lernen erst lernen, teilweise waren sie jahrelang auf der Flucht.“
  • 2. Auch gelernte Arbeitskräfte haben es mitunter schwer, nach einem Jobverlust zurückzufinden. Zwar meldet die Agentur für Arbeit aktuell deutlich mehr freie Stellen als im Vorjahr, doch drückt die Krise der großen Mülheimer Industrieunternehmen auch auf den Mittelstand durch. Hier machen Konietzka und Neubauer eine deutliche Zurückhaltung aus, was das Besetzen vakanter Stellen betrifft. Tatsächlich sind im Jahresschnitt im verarbeitenden Gewerbe rund ein Drittel freie Stellen weniger zur Vermittlung gemeldet worden als noch im Jahr zuvor.
  • 3. Mülheim schneidet auch deshalb besonders schlecht ab, weil der März 2015 für Mülheim einen auf längerer Zeitachse nicht vorhandenen Niedrigststand bei den Arbeitslosenzahlen auswies.
  • 4. Im März-Vergleich lässt sich feststellen, dass die Agentur 2016 fast 200 ihrer Klienten weniger in Maßnahmen hat. „Wir haben mehr kürzere Maßnahmen“, so Konietzka. Da aber Teilnehmer jener Maßnahmen aus der offiziellen Arbeitslosenzahl herausgerechnet werden, bedeuten 200 Teilnehmer weniger auch einen Anstieg der offiziellen Arbeitslosenzahl.

Chef der Sozialagentur erwartet „epochale Veränderung“

„Wir stehen als Gesellschaft vor einer epochalen Veränderung, dagegen war die Wiedervereinigung wahrscheinlich ein Klacks“, sagt Klaus Konietzka als Leiter der Sozialagentur zu der Herausforderung, die vielen Flüchtlinge mit Bleibeperspektive in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Wie berichtet, hat die Stadt sich schon entschieden, am Kirmesplatz in Saarn eine Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge einzurichten, um möglichst schnell Schritte auch zur Integration in den Arbeitsmarkt gehen zu können. Konietzka ist aber nicht sonderlich zuversichtlich, dass in kürzester Zeit große Erfolge zu erwarten sind. Vielmehr sei mit einer großen Belastung für die sozialen Sicherungssysteme zu rechnen, mit viel mehr Langzeitarbeitslosen.

„In fünf Jahren“, glaubt der Chef der Sozialagentur, „werden wir ein anderes SGB II haben.“ Es werde angesichts der hohen Flüchtlingszahlen viel mehr darum gehen müssen, Sprache zu vermitteln oder überhaupt erst mal die zugezogenen Menschen zu befähigen, sich in Deutschland eine Jobperspektive zu erarbeiten. Schließlich seien nach aktuellen Schätzungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nur 15 Prozent der neu Zugezogenen gut qualifiziert. „Alle anderen sind demnach schwer zu vermitteln.“