Mülheim. Moderatorin Bettina Tietjen begleitete ihren dementen Vater in den letzten Lebensjahren. Sie sagt: „Im Pflegewesen gibt es Einiges zu verbessern.“

Über die letzten Lebensjahre ihres Vaters hat Bettina Tietjen ein sehr persönliches Buch geschrieben. Darin erzählt die Fernseh-Moderatorin offen und ehrlich über seine fortschreitende Demenz vom ersten „Tüdeln“ bis zur totalen Orientierungslosigkeit. „Unter Tränen gelacht“ ist ein Mut machendes Buch geworden: kein Ratgeber, sondern eine Lebensgeschichte mitten aus dem Alltag – informativ und gefühlvoll, mit traurigen, aber auch komischen Momenten.

Sie sind in einem Reihenhaus in Wuppertal-Elberfeld aufgewachsen und leben schon seit 20 Jahren in Hamburg. Hat die Demenz Ihres Vaters dazu beigetragen, sich mit Ihrer Jugend und der Familie und Ihren Wurzeln zu beschäftigen?

Bettina Tietjen: Ja, das kann ich schon sagen. Ich habe auch über mich selbst eine Menge gelernt in der Beschäftigung mit meinem Vater und dem Buch. Weil man versucht, sich zu erinnern, wie er früher war, wie wir ihn wahrgenommen haben und wie die Mutter und die ganzen anderen Beziehungen waren. Das spielt alles mit rein, wenn man versucht, einen Menschen zu verstehen, warum er so geworden ist, wie er ist, und sich mit zunehmender Demenz zurückverwandelt hat.

Wie hat er sich verändert?

Tietjen: Er hat Verhaltensweisen und Eigenschaften an den Tag gelegt, die ich so von ihm überhaupt nicht kannte. Da muss irgendetwas verschüttet gewesen sein. Da kommen Dinge heraus, die im Verlauf des Lebens nicht ausgelebt wurden.

Sie haben plötzlich ganz andere Seiten an ihm entdeckt?

Tietjen: Da waren kleine Facetten, die in der Zeit rauskamen, als er sich noch ganz gut artikulieren konnte. Auch was meine Mutter, seine Vorstellungen, die Liebe und Gefühle betrifft. Er hat ganz viel gelacht und ganz viel geweint, als er dementer wurde. Er war hemmungslos und hat viel geflucht – und hatte sein diebisches Vergnügen daran. Je mehr sich der Verstand und die Kontrolle verabschiedet haben, desto mehr kam das raus. Mein Vater hatte Seiten, von denen wir Kinder nichts wussten.

Trotz beruflicher Anspannung haben Sie Ihren Vater intensiv betreut, ihn fast jeden Tag im Seniorenheim besucht. Nach Ihren Beschreibungen haben Sie sich für ein gutes Heim entschieden.

Tietjen: Ja, das muss ich wirklich sagen. Aber ich habe bei der Suche auch andere Heime gesehen. Ich bin mit dem Heim immer noch in Kontakt. Die Heimleiterin und das Team müssen richtig kämpfen, dass alles so bleibt. Dann bekommen sie wieder von oben Knüppel zwischen die Beine geworfen, müssen wieder sparen. Es ist wirklich ein harter Job und es gibt einiges zu verbessern im Pflegewesen in unserem Land.

In Ihrem Buch finden sich kritische Anklänge, was die Pflegesituation mit Personalschlüssel etc. betrifft.

Tietjen: Ja, ich weiß aber auch nicht, wie das zu lösen sein soll, weil es ja immer mehr demente Menschen werden, die Hilfe brauchen.

Nach der Demografie werden Demenzerkrankungen zukünftig sprunghaft ansteigen. Wie kann es der Gesellschaft gelingen, vernünftige Bedingungen für eine würdige letzte Lebensphase zu schaffen?

Tietjen: Wenn ich das mal wüsste. . . Die neue Regelung bringt ja auch nicht so viel. Es wird ein bisschen leichter, am Anfang das Betreuungsgeld zu bekommen. Aber das ist natürlich auch keine Lösung. Ich bin der Meinung, man müsste das ganze Gesundheitswesen umkrempeln: Pflege- und Krankenhaus – diese beiden Institutionen müssten viel mehr zusammenarbeiten.

Nach all dem Erlebten: Welche Schlüsse ziehen Sie für sich daraus? Das Hier und Jetzt zu genießen, so lange es geht?

Tietjen: Das ist eigentlich immer schon mein Motto (lacht). Ich habe auch die Schirmherrschaft über ein Hospiz in Hamburg. Und ich habe daraus gelernt, dass man Tabu-Themen wie Tod, Kranksein und Dementwerden zulässt – es bringt ja nichts, das zu verdrängen. Je öfter man sich damit beschäftigt, auch in der Zeit, in der es einem gut geht, desto weniger Angst hat man davor.

Bettina Tietjen liest aus ihrem Buch „Unter Tränen gelacht“ (Piper, 305 S., 19,99 €) am Freitag, 22. Januar, ca. 21 Uhr, im Anschluss an die Vorstellung „Der kleine Prinz“ im Theater an der Ruhr. Mit Helmut Schäfer spricht sie über ihre Erfahrungen.