Mülheim. Rechtliche Betreuung sollte eigentlich letztes Mittel sein. Aber offenbar ersetzt sie häufig Sozialarbeit.

Dass Menschen wichtige Dinge nicht mehr selber regeln können, dass ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden muss, geschieht oft schleichend, geht manchmal aber auch schnell. Wenn jemand einen Schlaganfall erleidet oder demenzkrank ist, müssen Entscheidungen vielfach schon in der Klinik getroffen werden, vor der Entlassung.

Im Evangelischen Krankenhaus etwa wird dann gemeinsam mit behandelnden Ärzten die Pflege- und Sozialberatung aktiv, nimmt Kontakt zu Angehörigen auf, falls es welche gibt, schickt Gutachten an das Gericht. „Früher war so etwas ein seltenes Ereignis“, erklärt der stellvertretende Abteilungsleiter Markus Kamp, „mittlerweile haben wir es im Durchschnitt mit einer gesetzlichen Betreuung pro Woche zu tun. Es wird deutlich mehr.“

Auch im Mülheimer St. Marien-Hospital müsse der Sozialdienst immer häufiger helfen, das Leben von Patienten nach der Entlassung zu regeln, bestätigt eine Sprecherin. „Es gibt immer mehr Alleinstehende.“

Sozialberater empfehlen Vorsorgevollmacht

Über rechtliche Betreuungen entscheidet das Mülheimer Amtsgericht, bei dem etwa 2240 Verfahren laufen, holt aber zuvor fachlichen Rat ein: Seit 1. Juli 2014 ist gesetzlich vorgeschrieben, dass in jedem Fall die Betreuungsbehörde eingeschaltet werden muss, um den Sachverhalt zu klären und einen Betreuer vorzuschlagen.

Diese Stelle sitzt im städtischen Gesundheitsamt und wird von derzeit vier Mitarbeitern getragen. Einer von ihnen ist Frank Hoeke, der Gesundheits- und Alterswissenschaften studiert hat. Er ergänzt: „Wir schauen auch, ob es andere Hilfen gibt, die eine Betreuung entbehrlich machen. Eine Vorsorgevollmacht reicht völlig aus.“ Vielfach besteht sie schon, das bestätigen (und empfehlen) auch Sozialberater in den Krankenhäusern. Häufig aber auch nicht.

Das letzte Mittel

Rechtliche Betreuung, so Hoeke, sollte eigentlich „als letztes Mittel eingerichtet werden“, doch de fakto häuften sich insbesondere Fälle, die Berufsbetreuern übertragen werden. Die Gründe seien so unterschiedlich wie die Betroffenen: Vermehrt sind schon Jugendliche von schweren psychischen Störungen betroffen, Krankheiten wie Altersdemenz nehmen zu, Familiensysteme funktionieren nicht mehr so wie früher, „solche Fälle“, so Hoeke, „landen dann bei uns.“

Und häufig würden Berufsbetreuer alltägliche Unterstützung leisten, um die sich früher vielleicht nahestehende Menschen kümmerten. So hänge an einer Krankenhausentlassung oft ein „Rattenschwanz“: Unterbringung im Pflegeheim, Auflösung der Wohnung, Regelung finanzieller Fragen, nicht selten bestehen Schulden... „Soziale Dinge“, so Hoekes Fazit, „werden immer weiter in das Betreuungsrecht verlagert.“

Berufsbetreuer stoßen an Belastungsgrenzen

In ihrem früheren Arbeitsleben leitete Susanne Kühlborn-Kurschat ein Altenpflegeheim. Vor 15 Jahren wechselte sie die Seiten und spezialisierte sich auf rechtliche Betreuungen. Eine Aufgabe, hinter der die Diplom-Sozialwirtin zwar unverändert steht, die sie aber offensichtlich zunehmend an Grenzen bringt. Ihren schätzungsweise 40 bis 60 Berufskollegen in Mülheim dürfte es kaum anders gehen.

Etwa 30 Menschen betreut Susanne Kühlborn, „quer durch alle psychischen Erkrankungen, Altersstufen und Behinderungen“, wie sie sagt. Vor allem in jüngster Zeit habe sie sich mit „richtig krassen Fällen“ befassen müssen, als Beispiel nennt sie eine Frau, bei der sie aufgrund einer schweren Psychose auch immer wieder die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung beantragt habe. „Damit ist ein ganz erheblicher Zeitaufwand verbunden.“

Kühlborn sagt sogar: „Ich arbeite zum Teil ehrenamtlich, weil ich nicht in angemessenem Maße bezahlt werde.“ Per Gesetz vergütet werden pauschal 3,5 Stunden pro Monat und Klient, auch wenn in schweren Einzelfällen 20 anfallen. Seit 2005 unverändert erhalten Berufsbetreuer einen Stundensatz von 44 Euro, „skandalös“, findet Susanne Kühlborn und weiß sich damit im Einklang mit vielen Kollegen.

Aber auch leichte Begleitungen sind ihr vergönnt: Sie berichtet von einer 28-Jährigen mit Borderline-Diagnose, die mittlerweile selber eine Familie habe „und mich kaum noch braucht“. Kühlborn will vorschlagen, dass die Betreuung aufgehoben wird – eher die Ausnahme.