Albrecht Müller leitete die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim SPD-Parteivorstand und war Wahlkampf-Manager von Willy Brandt bei der Wahl 1972. Gerade erschienen ist das Buch des 75-Jährigen: „Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger“. Er erklärt, was dieser Kanzler anders gemacht hat.

Albrecht Müller (75) leitete die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim Parteivorstand der SPD und war Wahlkampf-Manager von Willy Brandt bei der Wahl 1972 („Willy wählen“).Gerade erschienen ist Müllers Buch „Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger“.

Herr Müller, was machte den Menschen und Politiker Brandt aus?

Müller: „Willy Brandt machte Mitgefühl zur politischen Botschaft. Üblicherweise glauben Politiker, der oberste Grundsatz in der Politik sei: Die Lohntüte muss stimmen. Deshalb ist Wirtschaftskompetenz wichtig. Auch Willy Brandt wusste, dass Menschen für sich und ihre Familie sorgen wollen. Aber er traute ihnen mehr zu. Menschen sind nicht nur Egoisten; sie sind offen für Solidarität - mitfühlend, mitdenkend und mitleidend. Willy Brandt war den Menschen zugewandt. In einer seiner wichtigsten Reden, im Oktober 1972 in Dortmund, hat er von „Compassion“ gesprochen, er hat um Mitgefühl für andere geworben. Das war damals bemerkenswert und ist es noch immer.

Wie wirkte er auf die Menschen?

Ein Erinnerungsstück des ehemaligen Wahlkampfleiters.
Ein Erinnerungsstück des ehemaligen Wahlkampfleiters. © Kai Kitschenberg

Willy Brandt war kein unnahbarer Politiker, sondern ansprechbar und freundlich, ohne kumpelhaft zu wirken. Ein Mann, von dem Sie jederzeit einen Gebrauchtwagen kaufen würden.

Was unterscheidet Willy Brandt von Helmut Schmidt?

Ich könnte es mir einfach machen: Helmut Schmidt der Macher, Brandt der Nachdenkliche. Aber das ist ein Klischee. Willy Brandt brachte genauso viel vom Tisch. Und Helmut Schmidt konnte auch nachdenklich sein. Aber im Umgang mit anderen Menschen und mit ihrer Partei waren sie sehr verschieden. Willy Brandt war offen für die protestierende Jugend, auch offen für den Wunsch vieler Menschen, mitreden und mitbestimmen zu wollen. Helmut Schmidt pochte auf Führung. Noch etwas unterschied sie deutlich: Willy Brandt zog selten über andere her. Helmut Schmidt mäkelte unentwegt an Brandt und der SPD, also an seiner eigenen Partei herum. Kein Wunder, dass in Willy Brandts Zeit als Vorsitzender so viele Menschen der SPD beigetreten sind.

Was war an der Kampagne ‚72 besonders bemerkenswert?

Zum Beispiel, dass die Mitglieder und Sympathisanten die wichtigsten Wahlkämpfer waren. Sie waren motiviert, mit anderen Menschen zu sprechen, in den Betrieben, im Freundeskreis, in der Familie. Sie haben eigene Aufkleber gedruckt und Plakate in ihre Wohnungs- und Autofenster geklebt. Die SPD baute im Wahlkampf auf Kommunikation unter den Menschen. Ein Umfrageinstitut machte das „Zugabteil“-Experiment und fragte: Wer sucht von sich aus im Zug oder im Bus das politische Gespräch mit anderen Fahrgästen? Die überwiegende Mehrheit meinte: Sozialdemokraten. Sie waren motiviert und wussten Bescheid. Damals war die Diskussion im Ortsverein entscheidend für die Meinungsbildung. Heute sind auch SPD-Mitglieder weit gehend von den Medien bestimmt.

Müller denkt darüber nach, wie heute eine bürgernahe Kampagne aussehen könnte.
Müller denkt darüber nach, wie heute eine bürgernahe Kampagne aussehen könnte. © Kai Kitschenberg

Wir sprachen 1972 auch Menschen an, die dem politischen Gegner zuneigten. Der Brandt-Spruch „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land“ zielte auf das konservative Publikum. Es wirkte wie ein Coup. - Die Basis des Wahlkampfes war eine nach einzelnen Gruppen aufgeteilte Leistungsbilanz. Die Broschüre „Wort gehalten“ haben wir in einer Auflage von 17,4 Millionen verteilt. Das saß.

Die SPD hat in der Kampagne 2013 auf Hausbesuche gesetzt. Ist das ähnlich bürgernah wie die Kampagne 1972?

Hausbesuche wie im Wahlkampf 2013 machen nur dann Sinn, wenn sie inhaltlich unterfüttert sind. Was soll der Besucher denn einem Hartz IV-Empfänger sagen? Soll er ihm etwa die Agenda 2010 erklären? Und mit einer simplen Mindestlohn-Botschaft kann man verlorenes Vertrauen nicht zurückholen.

Es heißt, Brandt sei, insbesondere zum Ende seiner Kanzlerschaft, ein depressiver Mensch gewesen.

Willy Brandt war nicht depressiv, sondern nachdenklich. Die angebliche Depression ist bis heute das Hauptargument der Befürworter des Kanzlerwechsels zu Schmidt. Ein Industriestaat wie Deutschland könne sich einen depressiven Bundeskanzler nicht leisten, so die unterschwellige Botschaft. Im Umgang mit Brandt waren seine Gegner unerträglich, man könnte auch sagen: unanständig.

Was wäre passiert, wenn Brandt 1974 nicht zurückgetreten wäre?

Möglicherweise wäre der SPD dann einiges erspart geblieben. Brandt hätte versucht, die verschiedenen Strömungen in der SPD zusammenzuhalten. Er war offen für ökologische Themen, er war der Erfinder des Umweltschutzes in Deutschland. 1961 forderte er, der Himmel über der Ruhr müsse wieder blau werden. Brandt war für den Nord-Süd-Dialog, für Frieden und gegen Nachrüstung. Wäre Brandt Kanzler geblieben, wäre es vermutlich nicht zur Gründung einer neuen Partei, der Grünen, gekommen. Deshalb sagen einige spaßhaft: Helmut Schmidt ist der Gründungsvater der Grünen.

Bücher zu Brandt

Albrecht Müller: „Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger“; Westend-Verlag; 160 Seiten; 12,99 Euro.

Peter Brandt: „Mit anderen Augen: Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt“, Dietz, 280 Seiten; 24,90 Euro.

H. Lünstedt/I. Sabisch: „Willy Brandt. Sein Leben als Comic“, Knesebeck, 112 Seiten; 22 Euro